von Annette Wollenhaupt
Es ist Dienstagnachmittag und drückend heiß in Frankfurt am Main. Die Quecksilbersäule des Thermometers ist auf 34 Grad Celsius geklettert. Im großen Saal des Henry-und-Emma-Budge-Heims, in dem jüdische und auch nichtjüdische alte Menschen wohnen, verbreitet eine Klimaanlage erfrischende Kühle. Für Fred Frank eine wohlvertraute Wahrnehmung. Er ist aus Florida angereist, wo man im Sommer die praktischen Temperatursenker seit Langem zu schätzen weiß.
Fred Frank ist einer von mehr als 70 ehemaligen Frankfurtern, die zu einem zweiwöchigen Aufenthalt eingeladen worden sind. Es ist der vorletzte Tag in Fred Franks einstiger Heimatstadt. Mit ihm am Tisch sitzt sein Bruder Morton. In den vergangenen Tagen haben sie erstmals seit fast 70 Jahren das Haus ihrer Eltern wiedergesehen. Es steht heute noch, und die beiden haben auch einen Blick in den Garten geworfen. Besonders berührt hat sie der Gang zum Grab ihrer Großmutter. »Unsere Tante hat die Grabpflege in Auftrag gegeben, und wir sollten für sie schauen, ob auch alles in Ordnung ist«, erzählt Morton Frank.
Eine ältere Dame nimmt am Rande, aufmerksam um sich blickend, das Geschehen, die sich angeregt unterhaltenden Gäste an ihren Tischen wahr. Es ist Ruth Lapide, Witwe des 1997 verstorbenen jüdischen Theologen Pinchas Lapide. »Ich bin gespannt, aus welchen Eckchen der Welt all diese Menschen kommen«, sagt sie. Auf der Gästeliste, die Heimleiter Heinz Rauber in den Händen hält, stehen Besucher aus den USA, aus Israel, Großbritannien, Australien, Kanada und Dänemark. Doch an diesem Nachmittag im Henry-und-Emma-Budge-Heim sitzen ausschließlich Amerikaner beisammen. Für Rauber ist es der fünfte Besuch ehemaliger Frankfurter Juden. Es berührt ihn immer wieder aufs Neue, wenn »diese Menschen noch mal über Dinge reden, die sie verbinden und sie dabei doch auch spüren, es könnte die letzte Begegnung sein«. Rauber begrüßt seine Gäste, Rabbiner Andrew Steiman übersetzt ins Englische. Die Stimmung ist heiter, still allerdings wird es, als Rauber erzählt, dass Nachforschungen ergeben haben, dass alle jüdischen Bewohner des früheren Heimes deportiert und in KZs umgebracht worden seien.
Unter den Gästen, die Rauber zuhören, ist auch Ben Schweizer. Am nächsten Tag wird der 77-Jährige statt auf Menschen gleichen Alters auf Oberstufenschüler treffen, in einem Zeitzeugengespräch.
Mittwochvormittag. Im Speiseraum der Ernst-Reuter-Schule klappert das Geschirr, ein paar kichernde Mädchen schminken sich in der Pause vor dem Spiegel der Mädchentoilette. Pünktlich um 14 Uhr versammelt sich ein Stockwerk höher im Musiksaal eine Gruppe Oberstufenschüler, um Ben Schweizer zuzuhören. Der Gast aus den USA beginnt zu erzählen, anfangs noch in gebrochenem Deutsch – mit unüberhörbar hessischem Akzent. Später dann, weil es ihm nach 60 Jahren in den USA eben doch leichter fällt, spricht er Englisch. Schweizer lässt seinen Vater in der Erinnerung noch einmal lebendig werden, einen Polizisten, den die Nazis entließen, weil er nicht bereit war, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Schweizer erzählt von der alltäglichen großen Furcht der Juden damals in Nazi-Deutschland. Er sagt Sätze voll bitterer Ironie wie »Rennen wurde mein Lieblingssport«. Nach seiner Befreiung aus dem Ghetto Theresienstadt kehrte Schweizer zunächst nach Frankfurt zurück, baute sich dann aber mit seiner Schwester und den Eltern ein neues Leben in Kalifornien auf, unterstützt von Verwandten, die das Rote Kreuz zuvor aufgespürt hatte. Er war 17 damals, lernte mit Enthusiasmus Englisch, holte das Abitur nach, studierte. Arbeitete später für VW und eine Bank.
Die Schüler haken nach, sind erstaunt über den Mut eines 17-Jährigen, in einem so fremden Land neu anzufangen. Schweizer schildert, was ihm den Neubeginn leichter gemacht habe. Er erinnert an das Fußballspiel in einem jüdischen Verein, die Tanzveranstaltungen im Jewish Community Center, wo er seine Frau kennenlernte und an seine vielen Kinobesuche.
Welche Gefühle er Deutschen gegenüber nach alldem habe, fragen ihn die Schüler. »Es gibt schlechte Deutsche und schlechte Amerikaner«, antwortet Schweizer. Ohne die Hilfe nichtjüdischer Deutscher hätte sicher niemand von uns überlebt, sagt er. Doch sei er bis heute auf der Hut, beobachte instinktiv die Menschen in seinem Umfeld. »Ich habe meinen Autoschlüssel immer parat, damit ich schnell wegfahren könnte.«
Ob er sich vorstellen könne, dass sich etwas wie das »Dritte Reich« wiederholen könnte, fragt ein Schüler. Schweizer denkt nach, seine Prognose fällt optimistisch aus, die Menschen seien heute aufgeklärter als damals, sagt er. Dass der Nationalsozialismus so erfolgreich gewesen sei, habe viel mit Unwissenheit zu tun gehabt.
Ob die Stadt Frankfurt das 1980 gestartete Besuchsprogramm fortsetzen wird, ist fraglich. Mit den im Ausland lebenden ehemaligen Frankfurtern, deren Besuch laut Liste noch ausstehe, könne man allenfalls noch ein bis zwei Besuchsdurchgänge durchführen, sagt Dieter Graumann, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vizepräsident des Zentralrats der Juden. Bereits heute sei die Zahl der Besucher pro Jahr »nur noch halb so groß wie zu den besten Zeiten«. Unterstützt von FDP und SPD strebe die Jüdische Gemeinde daher eine Ausweitung des Projektes auf die zweite und dritte Generation an. »Frankfurt am Main sollte nicht auf die traurigen Fakten der Biologie spekulieren«, warnt Graumann. Stattdessen könnte sich die Stadt als erste im Lande profilieren, die das Programm auch für die Zukunft sichere. Und was die Kosten angeht: »Künftige Besuche könnten kürzer sein und die Hotels weniger exklusiv«, so Graumann.