von Zlatan Alihozic
»Weißt du, wie du aussiehst?«, fragt ein kleiner Junge und schaut zu Alexander Baumel auf. »Wie einer von den sieben Zwergen.« Das finden auch die umstehenden Kinder und fragen ihn, wen er in seinem weiten Umhang und der Mütze überhaupt darstellt. Gerne erklärt der Jugend- leiter der Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen, daß er einen der Juden spielt, die das Wunder im Zweiten Tempel miterlebten, in dem das Öl acht Tage lang brannte. Doch Alexander hat wenig Glück. »Bist du sicher, daß du kein Zwerg bist?«, platzt es aus dem Jungen heraus.
Nun beginnt das Rennen durch den großen Saal der Gemeinde am Duisburger Innenhafen. Socken rutschen über das Parkett, und Erwachsene beeilen sich, die Bahn freizumachen. Hier wird lebhaft Chanukka gefeiert, mit Popmusik, Artistik und einem Theaterstück.
Alexander Baumel nimmt die Zweifel an seinem Kostüm gelassen und versucht weiter, den falschen Bart hinter seinen Ohren zu befestigen. Unter dem hellen Ge-wand schauen immer noch die Turnschuhe hervor. Sein Freund Oleg Tartakowski ist ebenfalls Jugendleiter des Kinder- und Jugendzentrums Tikwatejnu, beide kommen aus Mülheim. »Wir haben uns überlegt, daß wir Chanukka aktiv und interaktiv feiern wollen. Ein besonderes Gewicht auf Religion haben wir dabei nicht gelegt, denn das Jüdische kommt während der Vorbereitungsphase mit den Kindern und Jugendlichen fast von alleine.
Der Sinn ist, daß die Leute in der jüdischen Gemeinde zusammenkommen und wir ihnen ihr Judentum wieder näherbringen. Besonders sollten die Kinder einbezogen werden. So sehen die Eltern auch, was wir hier jeden Sonntag mit ihren Kindern machen«, erklärt Oleg. Jeden Sonntag öffnet in Duisburg nämlich das Kinder- und Jugendzentrum seine Türen. Daß es in der konservativen Gemeinde dabei recht bunt zugeht, ist für Alex selbstverständlich. »Kindern macht das Spaß, was sie können. Und das ist nicht immer etwas Jüdisches«, sagt Oleg.
Deshalb hört man auch den ganzen Tag lang in regelmäßigen Abständen dumpfes Scheppern durch das Gebäude hallen. Ein Mädchen übt, auf einem Einrad zu fahren, hin und wieder kippelt sie gefährlich. Doch sie landet immer auf den Füßen, es ist zum Glück nur das Einrad, das aufschlägt. Ein anderes Mädchen bereitet sich auf ihren Auftritt vor und tanzt mit Rollschuhen zwischen den Stuhlreihen umher. Die meisten Eltern halten jede Bewegung des Nachwuchses, besonders auf der Bühne, mit Foto- und Videokameras fest. Zwar steht im Hintergrund eine riesige Chanukkia, und der Kinderchor singt religiöse Lieder, doch es herrscht eher die Atmosphäre eines Talentwettbewerbs. Unverkrampft sitzt die Gemeinde zusammen. So wird vielen, die sonst nicht in das Haus kommen würden, der Zugang erleichtert.
»Wenn man hier jüdische Kontakte aufbaut, verliert man vielleicht nicht so schnell den Kontakt zur Kultur«, sagt Alexander. Der 21jährige steckt in der Ausbildung zum Speditionskaufmann, sein gleichaltriger Freund Oleg studiert Medizin. Beide nehmen sich für ihre Jugendgruppen und die jüdische Kultur gerne Zeit. Sie wissen aber auch, daß sie nicht alle so leicht erreichen. »Es spielt sich im Moment eine stille Assimilation ab«, erzählt Oleg. »Es heißt nicht: ›Geh nicht zur Synagoge‹, sondern: ›Hey, da ist heute Abend eine Party‹«. Wie sich die meisten Jugendlichen entscheiden, muß er gar nicht mehr sagen. Er zuckt mit den Schultern. »Nicht zu gehen, ist einfacher. Aber genau daran arbeiten wir.«
Alexander Baumel und Oleg Tartakowski sind in jeder Minute engagiert, den Kreis ihrer Schützlinge zu erweitern. »Gerade habe ich noch mit einer Mutter gesprochen, vielleicht haben wir bald ein Kind mehr hier«, sagt Alexander. »Ja, ich habe auch gerade noch mit Eltern geredet«, teilt Oleg mit. Die beiden freuen sich besonders über junge Gäste. »An Jugendliche kommt man nur schwer heran«, gibt Oleg zu. »Sie lassen sich, besonders wenn sie in der Pubertät sind, weder von ihren Eltern noch von uns direkt beeinflussen.« Wenn sie aber doch einmal im Jugendzentrum vorbeigeschaut haben, kommen sie meist wieder – eine Rückfallquote, die sich Oleg und Alexander wünschen.
Zwischen Lampenfieber und Erleichterung nach dem Auftritt kommen die Kinder kaum dazu, an Chanukka zu denken. Wenn sich die Aufregung wieder gelegt hat, nach dem gemeinsamen Anzünden der Chanukkia, kommt das Fest einigen sicher wieder in den Sinn. Doch in dem Moment, in dem sie die Gemeinde verlassen, gerät das Fest bei vielen Kindern wieder in Vergessenheit.
Nur wenige hundert Meter trennen Chanukka von Weihnachten, die Synagoge vom Duisburger Weihnachtsmarkt. »Die Kinder kommen durcheinander, aber…« – Alexander hadert noch mit sich selbst, ob er es so ausdrücken kann – »…aber das sollen sie auch.« Oleg pflichtet ihm bei. »Wenn wir erreichen, daß sie sich Gedanken über ihre Situation machen, dann haben wir schon etwas Wichtiges erreicht. Sie sollen anfangen, selbst zu denken und darüber zu tüfteln, wer sie denn nun sind und wohin sie gehören.«
Im Saal streichen Eltern die bunten Kostüme ihrer Söhne und Töchter glatt. Die Kinder üben ein letztes Mal ihre Tanzschritte mit tatkräftiger Unterstützung von Regisseur Rafael Saitov. Saitov nickt Rabbiner Daniel Katz zu, der gerade den Raum betritt. Der Rabbiner blickt zu den Eltern, die sich um ihren Nachwuchs kümmern. Eine Kette von jüdischer Kultur, vom Glauben, von Chanukka – auch wenn es noch nicht jedes Glied merkt.