Herr Konrád, wo waren Sie, als vor 5o Jahren der Aufstand in Budapest begann?
konrád: Ich saß damals in der Redaktion einer kurz zuvor gegründeten politisch-literarischen Zeitschrift. Die erste Ausgabe sollte am 23. Oktober 1956 erscheinen. Natürlich klappte das nicht. Die Ungarn waren mit anderen Themen beschäftigt an diesem Tag. Und alles, was wir in dieser ersten Nummer veröffentlichen wollten, war schon von der Geschichte überholt. Ich war der Jüngste in der Redaktion und mit dem Redigieren von irgendwelchen Gedichten beschäftigt. Das war ziemlich langweilig angesichts der Aufgeregtheit in diesen Tagen. Wir wußten nicht, ob die Behörden unsere Demonstrationen auch genehmigen würden. Wir Studenten wollten unser Mitgefühl und unsere Solidarität mit den polnischen Studenten ausdrücken, die zuvor an den gewaltsamen Protesten in Posen teilgenommen hatten. So fing das alles an.
Drei Wochen später war dann alles vorbei. Was haben Sie als damals junger Mensch empfunden, nachdem der Aufstand von der Sowjetarmee niedergeschlagen wurde?
konrád: Ich dachte, das würde alles vorbeigehen. Ich wußte, daß auch der Freiheitskampf der Ungarn im 19. Jahrhundert gescheitert war. Den Ungarn war es auch da- mals nicht gelungen, ihre Unabhängigkeit zu bekommen. Und den Habsburgern hatte damals auch der russische Zar geholfen, der eine riesige Armee geschickt hatte. Ich dachte, es wird jetzt schwerer, später wieder etwas leichter werden. Aber ich interessierte mich dafür, wie diese Stadt Budapest jetzt reagieren würde … und darum bin ich geblieben. Fast 200.000 Ungarn sind damals weggegangen, das ist viel für ein kleines Volk. Es war die Elite, die aus dem Land geflohen ist.
Haben sich die Ungarn vom Westen im Stich gelassen gefühlt?
konrád: Natürlich. Das war ein verbreitetes Gefühl, weil zum Beispiel Radio Free Europe dumme Kommentare sendete und die Ungarn ständig aufhetzte gegen die Regierung von Imre Nagy und seine Kompromißformeln. Sie versprachen auch, daß die USA helfen würden. Man hoffte auch auf die Hilfe der UNO. Wir dachten, daß irgendein Reformkommunismus zustande kommen könnte. Die Leute wollten Sozialismus haben und zugleich eine freie parlamentarische Demokratie.
Haben Sie es nach der Niederschlagung des Aufstands für möglich gehalten, daß das kommunistische System je gestürzt werden könnte?
konrád: Ich hoffte auf eine Lösung wie in Österreich nach 1945, also auf einen Staatsvertrag, der den Ungarn die Neutralität und damit die Unabhängigkeit garantierte. Ich habe nicht gedacht, daß das sowjetische Imperium zusammenbrechen würde. Das war damals doch sehr stark.
Es gibt Historiker, die einen der Gründe für den Aufstand von 1956 in der Niederlage der ungarischen Fußballnationalmannschaft zwei Jahre zuvor 1954 in Bern sehen.
konrád: Ich kenne diese These. Sie ist lustig, aber nicht ganz historisch begründet. Aber Tatsache ist, daß nach dieser Niederlage erstmals viele Leute auf der Straße waren, verschiedene Losungen riefen und auf die Fußballer und diejenigen schimpften, die die Mannschaft so zusammengestellt hatten.
Wurde der Antikommunismus als Motiv des Aufstands 1956 auch von Antisemitismus begleitet, wie man ihn aus der ungarischen Geschichte kennt?
konrád: In dieser Phase nicht, das war marginal. Die Juden waren sowohl im Regierungslager als auch im Gefängnis. Und sie waren auch im Freundeskreis von Imre Nagy vertreten. Es gab also keine wirkliche Grenze zwischen den politischen Fronten. Der Antisemitismus war kein bestimmendes Element bei dieser Revolution. Es gab den einen oder anderen antisemitischen Unterton. Aber die Leute, die auf der Straße kämpften, waren meistens noch sehr jung.
Fünfzig Jahre danach: Wie denken Sie heute über den Aufstand.
konrád: Man kann sehr unterschiedliche Gefühle haben, man kann diese Ereignisse auch realpolitisch betrachten. Es war eine brutale Niederlage mit Vergeltungen, bei der 7oo bis 800 Menschen hingerichtet wurden, fast alles junge Leute. Wenn ich später bei meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter zu Familien kam und fragte, wo ist der Vater, dann wurde oft gesagt: Der wurde hingerichtet. Oder: Er ist weggegangen. Es war ein großer Schlag, fast ein Gehirnschlag.
Das Gespräch führte Wolf Scheller.