von Marina Sassenberg
Pierre Mendès France gilt als politisches Gewissen Frankreichs und herausragende Figur der politischen Linken des 20. Jahrhunderts: Mit 22 war er jüngster Rechtsanwalt der Republik, mit 25 jüngster Abgeordneter des französischen Parlaments. In den dreißiger Jahren leistete er Widerstand gegen die Nationalsozialisten, noch bevor die Résistance sich formierte. Nach 1945 steht sein Name für den friedlichen Prozess der Einigung Europas.
Geboren 1907 in Paris, studiert Pierre Mendès France dort Rechts- und Politikwissenschaft. 1932 wird er sozialistischer Abgeordneter der Nationalversammlung, 1935 Bürgermeister in Louvier. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits mit Lily Cicurel verheiratet und hat einen Sohn (Bernard); der andere (Michel) wird 1936 geboren. Obwohl seine Position ihn vor dem aktiven Militärdienst bewahrt, geht Mendès France bei Kriegsbeginn zur Luftwaffe. Vom Vichy-Regime 1941 unter falscher Anklage festgenommen und zu sechs Jahren Haft verurteilt, flieht er aus dem Gefängnis in Clermont-Ferrand über Marokko nach Großbritannien. In London schließt er sich der Bewegung »France libre« von Charles de Gaulle an und wird 1944 in dessen Übergangsregierung Wirtschaftsminister.
Nach Kriegsende spielt Mendès France weiterhin eine wichtige Rolle in der Politik. 1954 wird er Ministerpräsident; in sein Kabinett beruft er auch den jungen François Mitterand. Zusammen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer, dem britischen Außenminister Anthony Eden und dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles unterzeichnet Mendès France noch im selben Jahr die »Pariser Verträge«. Für die Bun- desrepublik bedeuten sie das Ende der Besatzungszeit und den Anschluss an Europa. Mit der Beendigung des Indochinakriegs leitet Mendès France Frankreichs Rückzug aus der Kolonialpolitik ein, was ihn zum Ziel innenpolitischer, vielfach auch antisemitischer Angriffe macht. Nach wenigen Monaten wird 1955 seine Regierung gestürzt. 1959 überwirft sich der streitbare Linke mit seiner Partei, die de Gaulles Machtpolitik unterstützt, und wechselt zur PSU, einer kleinen linken Partei, die er in den 60er Jahren in der Nationalversammlung vertritt. Er unterstützt die Kandidatur Mitterands zu den Präsidentschaftswahlen 1974 und wird bis zu dessen Wahlsieg 1981 sein politischer Berater. In seinen letzten Lebensjahren widmet sich Mendès France dem Friedensprozess im Nahen Osten. Er stirbt am 18. Ok- tober 1982 an seinem Schreibtisch in Paris.
Die offiziellen Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag des französischen Staatsmanns und europäischen Intellektuellen finden am 22. Januar in Paris statt. Die deutsche Öffentlichkeit wird von diesem Ereignis kaum Notiz nehmen. Im geeinten Europa endet das biografische Interesse oft an nationalen Grenzen. Pünkt- lich zu den Feierlichkeiten erscheinen in diesen Tagen deshalb leider nur in französischer Sprache zwei neue Arbeiten zum Thema: die Biografie Pierre Mendès France von Eric Roussell und die Untersuchung Der ›Jude‹ Mendès France von Gérard Boulanger.
Anders als die meisten prominenten Persönlichkeiten hat Pierre Mendès France keine Autobiografie geschrieben. Stattdessen hinterließ er ein in mehr als fünfzig Jahren privater Forschung entstandenes Archiv zur Geschichte seiner Familie und zur Geschichte sefardischer Juden in Bordeaux, insgesamt schätzungsweise 6,5 laufende Meter. Die bisher noch kaum genutzte Sammlung, zu der ein handschrift- lich erstelltes Register existiert, befindet sich in Paris, bei der Alliance Israélite Universelle. Sohn Michel, Mathematikprofessor in Bordeaux, und Schwiegertochter Joan Mendès France, emeritierte Hochschullehrerin für Politikwissenschaft, erwarten, dass die Daten bald im Internet zugänglich sind. Als Nachlassverwalter kümmern sie sich um das historische Familienerbe. Allein ihr Haus, ein ehemaliges Verwaltungsgebäude aus dem 18. Jahrhundert, birgt einen beachtlichen Teil der mehr als drei Jahrhunderte alten Familiengeschichte. Ein zeitgenössischer Schrank im Salon bewahrt das Herzstück: ein von Pierre Mendès France geführtes Fotoarchiv, genauestens sortiert und akribisch beschriftet. Die Geschichte der Familie ist noch nicht geschrieben. Es wäre eine Geschichte, die im Bordeaux des 17. Jahrhunderts beginnen und von der Flucht des Luis Mendes de França vor der Inquisition in Lissabon erzählen würde. Die Forschung darüber ist mühselig. Wenn es aber möglich ist, nach akademischen Standards die Biografie eines Unbekannten zu schreiben, wie Alain Corbin gezeigt hat (Le monde retrouvé de Louis-François Pinagot, Paris 1998), so sollte es auch möglich sein, auf der Basis der von Pierre Mendès France gesammelten Quellen eine europäisch-jüdische Familiengeschichte zu schreiben. Vielleicht ergeben sich dadurch auch neue Perspektiven auf Leben und Werk des Sammlers selbst. Pierre Mendès France ist bekannt als einer der Konstrukteure der politischen Gegenwart Europas – als Konstrukteur der sefardischen Geschichte Europas ist er noch zu entdecken.