Yuriy Gurzhy

Jiddischkeit und Remmidemmi

von Jonathan Scheiner

Auf dem Couchtisch in Yuriy Gurzhys Souterrainwohnung in Berlin-Mitte stehen Essensreste vom Vorabend herum. Auf dem Schreibtisch türmen sich Tastaturen, Monitore und Lautsprecher. Hier ist das Studio, in dem Gurzhy und sein Freund Simon Wahorn an ihren Songs basteln.
Yuriy Gurzhy hat als DJ zusammen mit dem Kultautor Wladimir Kaminer die legendäre Russendisko aus der Taufe gehoben. Doch seine eigentliche Leidenschaft als Sänger, Gitarrist und Soundtüftler gilt moderner jüdischer Popmusik. 2006 erschien die CD Shtetl Superstars, ein Stelldichein der wichtigsten Erneuerer jüdischer Musik – von und mit Yuriy Gurzhy. Und zusammen mit Simon Wahorn hat Gurzhy die Band »Rotfront« gegründet. Deren erste CD Emigrantski Raggamuffin erscheint nächste Woche. So wie auf diesem Album klinge Klesmer, wenn er den Mief der Jahrzehnte abgestreift habe, sagt Gurzhy stolz. Was die hiesige Szene spiele, sei hingegen »kastrierter Klesmer«. »Für mich steht Klesmer für Lebensfreude, aber hier wird er gespielt wie Beerdigungsmusik«, motzt der kahlköpfige junge Mann und zwirbelt seine getönte KGB-Brille zwischen den Fingern. »Man kann diese Musik doch nicht so spielen wie vor dem Krieg.« Wenn er und »Rotfront« Klesmer mit zeitgenössischen Sounds mixten, seien sie zudem der Klesmertradition treuer als die – oft nichtjüdischen – deutschen Brauchtumspfleger. »Klesmer hat immer schon die verschiedensten Einflüsse integriert, sei es die Musik der Zigeuner oder andere Volksmusik.«
Ganz in diesem Sinn dominieren auf Emigrantski Raggamuffin Hip-Hop, Ska und der Titel gebende Ragga (-muffin), eine moderne Spielform des Reggae. Nur einer der 17 Songs des Albums, Klezmerton, verweist namentlich auf die Tradition. Stattdessen wird Remmidemmi gemacht, so einer der schärfsten »Rotfront«-Titel.
Wie es sich für eine typische Berliner Band gehört, kommen die »Rotfront«-Musiker von überall her. Gurzhy, Jahrgang 1975, ist gebürtig aus Charkow in der Ukraine, Simon Wahorn wurde 1977 im ungarischen Szentendre geboren. Beide leben seit Mitte der 90er-Jahre in Berlin. Zur Gruppe gehören außerdem der Akkordeonist Daniel Kahn, Max Bakshish (Klarinette und Saxofon), Dan Freeman (Saxofon) und Anke Luchs (Posaune) sowie der Drummer Jan Pfennig. Die ungarische Schauspielerin Dorka Gryllus ist die weibliche Stimme der Band. Das jüngste Mitglied von »Rotfront« ist der Berliner Rapper Mad Milian.
Jüdische Musik kennengelernt hat Gurzhy durch seinen Großvater. Auch der war Musiker. Eigentlich. »Seine Geige ist ihm geklaut worden, als er 1942 von Charkow nach Taschkent umgesiedelt wurde. Also wurde er Zahnarzt.« Der Großvater spielte dem jungen Yuriy Kassetten vor, mit Liedern der Barry Sisters, des Entertainers Mickey Katz oder außerhalb der UdSSR völlig unbekannter jüdischer Stars der Sowjetära. Dazu kamen »Propaganda-Platten, auf denen die Schönheit Israels besungen wurde«, erinnert Gurzhy sich. Diese Jugenderinnerungen will er jetzt mit anderen teilen. Eines seiner nächsten Projekte soll ein Album mit den »Godfathers of Jewish Funk« werden.

»Emigrantski Raggamuffin« erscheint am 5. Juni 2009 bei Essay Recordings. Die nächs-ten Rotfront-Liveauftritte finden im Kaffee Burger in der Berliner Torstraße als Konzert-Marathon vom 30. Mai bis 5. Juni statt.

Kultur

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