Zu Beginn des Wochenabschnitts Nizawim heißt es: »Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem Gott, eure Häupter, eure Stämme. Eure Ältesten und eure Aufseher, alle Männer Israels, eure Kinder, eure Frauen und der Fremde in deinem Lager, deine Holzhauer und Wasserschöpfer. Um auf den Bund mit dem Ewigen, deinem Gott, und auf den Eid einzugehen, auf den dich der Ewige, dein Gott, heute verpflichtet« (5. Buch Moses 29,9-12). Weiter heißt es: »um dich heute zu seinem Volke zu erheben«.
Dreimal spricht Mosche von »heute«, und damit ist durchaus auch »heute« oder »jetzt« gemeint. Der Text ist im Präsens, der Gegenwartsform, formuliert, und der Vorgang, von dem die Rede ist, findet weiterhin statt. Wer zur Tora aufgerufen wird, der verweist immer wieder neu auf dieses Prinzip mit den Segenssprüchen über die Tora. Zunächst spricht man: »der uns die Tora gegeben hat« (natan) und dann später »der uns die Tora gibt« (noten). Die Tora spricht also direkt zu uns und nicht nur zu den Kindern Israels damals, wie es so schön heißt, wenn man versucht, die Gebote der Tora in einen anderen Zusammenhang zu stellen, um zu erklären, dass man sie heute in dieser Form nicht mehr brauche. »Ja, damals in der Wüste war es schlecht, Schweinefleisch zu essen«, heißt es dann häufig. Mosche spricht aber dennoch zu uns heute, heißt es doch in Vers 14: »und mit denjenigen, die nicht hier sind«.
einfluss Die Angehörigen Israels werden, wenn man so will, in der Hierarchie absteigend genannt. Die Häupter, die Ältesten, die Beamten, »normale« Männer, Wasserschöpfer und Holzhauer. Jede Gruppe, die auch ihren eigenen sozialen Status hat, wird angesprochen, nicht nur spezielle Kultusbeamte oder Priester, sondern sogar die Fremden.
Rabbi Chajm ben Attar (1696-1743) aus Livorno sieht in seinem Torakommentar Or HaChajim noch einen weiteren Sinn in der Aufzählung: Die Menschen seien in Gruppen eingeteilt, um zu verdeutlichen, dass jeder jemanden anderen in seiner Gruppe und in der darunterliegenden Hierarchie beeinflussen kann. Die Häupter haben die Möglichkeit, die breite Masse zu beeinflussen, Frauen ihre Familien, Kinder ihre Klassenkameraden oder Spielgefährten und die Arbeiter ihre Kollegen.
Aber auch in einem übertragenen Sinne schließt Mosche alle mit ein. Die Holzhacker und die Wasserschöpfer stehen für zwei Arten von Menschen, stellvertretend für Typen, wie wir ihnen auch heute begegnen. Die Holzhacker sind diejenigen, die Bäume fällen und zerhacken. Versteht man die Tora als »Baum des Lebens«, dann sind es diejenigen, die die jüdische Tradition infrage stellen und zuweilen sogar respektlos mit ihr umgehen. Die Wasserschöpfer stehen ihnen gegenüber. Sie sind diejenigen, die sich besonders intensiv und viel mit der Tora und den Lehren des Judentums beschäftigen. Ein Text, den wir wöchentlich zur Hawdala lesen, verweist darauf: »Und mit Freuden werdet ihr Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils«, wie es bei Jeschajahu (12,3) heißt.
Es sind also nicht nur diejenigen mit eingeschlossen und angesprochen, die sich ohnehin intensiv mit dem Judentum befassen, sondern auch diejenigen, die einem jüdischen Leben fernstehen. Jeder Jude ist gemeint und eingeschlossen. Rav Aschi sagt im Talmud (Schabbat 146a), dass auch diejenigen miteingeschlossen seien, die später zum Judentum übertreten.
wegweiser Jeder hat jederzeit die Möglichkeit, sich mit der Tora zu beschäftigen und den Weg zu beschreiten, von dem Gott sagt, er bringe Leben. In Vers 30,19 heißt es: »Ich rufe heute gegen euch Himmel und Erde zu Zeugen auf, dass ich dir das Leben und den Tod, den Segen und Fluch vorgelegt habe, so wähle das Leben, auf dass du leben wirst, du und deine Nachkommen.« Der Weg ist klar, die Tora ist der Wegweiser, und der Mensch hat die Möglichkeit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden.
In einem Midrasch zum Wochenabschnitt Re’eh wird dazu folgende Geschichte erzählt: Ein alter Mann saß an einer Weggabelung. Ein Weg war voller dorniger Pflanzen, aber am Ende war er eben und leicht zu gehen. Der andere Weg war zu Beginn eben und ohne Dornen, aber am Ende voller Dornenpflanzen. Der Mann sagte zu jedem Passanten: »Dieser Weg ist zu Beginn sehr dornig, wähle ihn aber dennoch. Er wird am Ende frei und eben sein.« Wer den Ratschlag befolgte, ging ängstlich den dornigen Pfad hinauf, kam am Ende aber wohlbehalten an. Diejenigen, die dem Ratschlag des Alten nicht folgten, kamen zwar zunächst gut voran, stießen dann aber doch auf Hindernisse und stürzten sogar. Dies sei wie die Aufforderung Gottes, sich für das Leben zu entscheiden.
Das wiederholt nicht nur, dass die Tora der Wegweiser ist, sondern räumt ein, dass ein Leben mit und nach der Tora zunächst alles andere als einfach ist. Viele »spirituelle Wohlfühlangebote« scheinen schneller zu einem Ziel zu führen. Aber auch alle möglichen Einwände werden im Wochenabschnitt bereits genannt. »Dies Gebot, das ich dir heute gebe, ist dir nicht zu schwer und liegt dir nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen könntest: Wer wollte für uns zum Himmel steigen … und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer würde für uns über das Meer fahren, es zu holen?«
zeitgemäss Die Tora ist keine unerreichbare Idealvorstellung und nichts, was an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit Gültigkeit oder Bestand hat. Weder muss sie von jenseits des Meeres geholt werden, noch muss man ein spirituell besonders entwickelter Mensch sein. Die Tora ist nicht nur denen zugänglich, die »himmlische Sphären« erreicht haben. Auch heutige Generationen können sie erklären und deuten, denn ihre Interpretation wird von einer himmlischen Macht unverrückbar bewahrt.
Als Rav Joschua von einer himmlischen Stimme aufgefordert wird, einem Urteil Rabbi Eliesers zu folgen, antwortet dieser: »Sie ist nicht im Himmel« (Bawa Metzia 59b). Alles was nötig ist zum Verständnis der Tora, ist die Beschäftigung mit ihr. In der Parascha Nizawim heißt es: »das Gebot liegt dir nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen, so dass du danach handeln kannst« (30,14). Packen wir es also an.