von Beate Hoffmann
»Früher bin ich an Jom Kippur mit dem Fahrrad in die Gemeinde gekommen, das fand Rabbiner Barslai nicht gut. ›Was soll ich machen, zu Fuß brauche ich fast zwei Stunden‹, entgegnete ich. ›Dann schnall dir eine Flasche Wasser auf den Gepäckträger‹, sagte der Rabbiner. ›Wieso?‹ ›Weil in der Bibel steht, auf dem Wasser darf man fahren.‹« Elvira Noa, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde im Lande Bremen, lächelt verschmitzt, als sie den Kindern beim Tag der offenen Tür am vergangenen Sonntag die Episode erzählt. Die Mädchen und Jungen hören zwar gespannt zu, auch wenn Riten und Regeln eher nicht zu ihrem Alltag gehören. Ein Großteil von ihnen besuche sogar gegen den Willen der Eltern den Religionsunterricht, sagt Noa.
Die Mehrzahl der mehr als 1.200 Mitglieder starken Gemeinde kommt aus der ehemaligen Sowjetunion, im Gepäck die Erfahrung, daß praktiziertes Judentum viele Nachteile mit sich brachte. In Bremen fühlen sich viele von ihnen dennoch sehr an das Gemeindeleben gebunden. Ein Spagat, den Noa zu akzeptieren gelernt hat. »Mein Ziel war, daß sich wieder ein lebendiges Leben entwickelt, daß sich viele engagieren für die Senioren, den Frauenverein, die Jugendarbeit. Heute läuft das von alleine.«
Rund 150 Kinder und Jugendliche gehören zur Gemeinde, etwa 70 sind aktiv, zwischen 30 und 40 kommen regelmäßig in die Synagoge. Mit viel Energie hat die zierliche Frau mit den braunen Locken den Kindergarten sowie das Jugendzentrum Atid aufgebaut – Atid wie Zukunft, weil sie hofft, »daß was hängen bleibt«.
Seit dem Tod von Rabbiner Benyamin Barslai im vergangenen Jahr ist die Gemeinde auf der Suche nach einem Nachfolger. Im Juli hat Rabbiner Mordechai Bohrer (49) seine Probezeit begonnen. Wie die Zukunft der Gemeinde aussieht? Noa wagt keine Prognose, schließlich sei es auch schwer, den richtigen Partner zu finden, um eine jüdische Familie zu gründen.
»Wir lassen uns in nichts hineinzwängen, selbst wenn unsere Eltern einen jüdischen Schwiegersohn bevorzugen«, sagen Radmila, Stasja und Vita, die drei Madrichot vom Jugendzentrum, selbstbewußt. Andererseits sind sie sich ganz sicher, daß sie ihre Kinder jüdisch erziehen werden.
Ihre Bremer Gemeinde findet Stasja einfach »perfekt, weil Menschen, die sich nicht streng an alles halten, nicht ausgegrenzt werden«. Aber daß zum Beispiel ein Mann und eine Frau in der Synagoge zusammensitzen wie in den liberalen Gemeinden in Stockholm und Berlin, die sie jüngst besucht hat, das lehnt die 20jährige entschieden ab.
»Israel defense forces« steht in gelber Schrift auf dem olivgrünen T-Shirt von Radmila. Zwei Israel-Besuche haben ihre glühende Leidenschaft für das Land geweckt. Stasja und Vita betrachten das Engagement ihrer Freundin mit liebevollem Abstand. Sie sind in den vergangenen Monaten vorsichtiger geworden, wenn sie über ihr Judentum sprechen. Die Konflikte in Nahost hinterlassen ihre Spuren: »Ich habe Angst, an die falschen Leute zu geraten«, sagt Stasja.
Jeans, weiße Turnschuhe, eine Krawatte modisch leger umgebunden, so assistiert Radmila im Schulraum der Gemeindevorsitzenden Elvira Noa beim Religionsunterricht. »Ich bin nicht streng religiös, trage auch keine Röcke, nur an Jom Kippur halte ich alles ganz streng ein.«