Seit mehr als einem Jahrhundert ist der 11.000-Einwohner-Ort Davos in der Schweiz ein Touristenmagnet. Auch jüdische Urlauber kommen traditionell gerne nach Graubünden. Doch jetzt wird dort öffentlich Stimmung gemacht gegen orthodoxe Juden.
Jüngst veröffentlichte die »Gipfel-Zytig« (die sich selbst als »Organ für den Tourismus im Prättigau, in der Landschaft Davos und im Albulatal sowie im Engadin« bezeichnet) unter der vielsagenden Überschrift »Ein ›Scheissdreck‹ auf der Terrasse« ein Foto von Fäkalien vor einem Haus.
Im Begleittext heißt es: »Der Besitzer der hübschen Wohnung in Davos traute seinen Augen nicht: Nach dem Check-Out seiner Gäste entdeckte er auf der Terrasse diese Schweinerei, die unzweifelhaft von einem menschlichen Wesen jüdischer Abstammung stammt.« Der Mann werde künftig keine Wohnung mehr an »diese Menschen« vermieten, schrieb die Zeitung weiter.
Und in der Davoser Lokalzeitung wurde jüngst ein Leserbrief veröffentlicht, in dem es heißt: »Das Verhalten der orthodoxen jüdischen Gäste hier in Davos ist nicht nur mitunter grenzwertig, sondern geradezu anmaßend und grenzüberschreitend.« Bei »allem Verständnis für das Leiden des jüdischen Volkes« könne es nicht angehen, dass die Nachkommen der Opfer sich Verhaltensweisen bedienten, die »nicht einmal in elementarster Weise mit den hiesigen Gepflogenheiten zu vereinbaren sind.«
PROBLEME Zu guter Letzt erklärte der Geschäftsführer des Tourismusverbandes »Destination Davos Klosters«, Reto Branschi, jüdische Touristen in Davos seien in besonderer Weise für die Vermüllung der Landschaft verantwortlich zu machen. Es sei, so Branschi im Interview mit der »Bündner Zeitung«, »auffällig, dass das Problem jeweils in den Hauptferien der orthodoxen jüdischen Gäste stark zunimmt. Dieses Phänomen sehen wir schon seit einigen Jahren.«
Davos stehe zwar allen Urlaubern offen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion. »Aber es gibt Regeln, und die werden leider speziell von orthodoxen Jüdinnen und Juden nicht eingehalten«, sagte Branschi. Ein Fehlverhalten schrecke nicht nur die Einheimischen, sondern auch andere Touristen in Davos ab, von denen einige früher als geplant wieder abreisten.
Die Partnerschaft mit einem Projekt des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), bei dem es darum ging, zwischen einheimischer Bevölkerung und jüdisch-orthodoxen Gästen zu vermitteln und gegenseitiges Verständnis aufzubauen, hat der Tourismusverband nun abrupt beendet.
Das Projekt habe »in der Summe nichts gebracht, wir befinden uns noch immer in derselben Situation«, begründete Branschi den Ausstieg. »Eine Gruppe von Gästen hat keinen Respekt vor unseren Gepflogenheiten im öffentlichen Raum und reagiert ablehnend auf alle Versuche, ihnen das zu erklären«, behauptete er.
Im Interview mit der Jüdischen Allgemeine weist SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner Branschis Aussagen scharf zurück – und spricht von gezielter Stimmungsmache gegen jüdische Touristen.
Herr Kreutner, wie bewerten Sie die Aussagen von Reto Branschi?
Es ist wirklich krass, dass ein offizieller Vertreter einer Tourismus-Organisation sich einer solchen Sprache bedient. Das schockiert mich. Dass einzelne Personen in Davos Mühe mit gewissen Besuchern haben, ist eine Sache. Aber dass Herr Branschi vom Verhalten Einzelner auf eine ganze Gemeinschaft schließt und in dieser Art und Weise generalisiert, das geht gar nicht.
Will Davos keine jüdischen Touristen mehr, und wenn ja, warum nicht?
Es gibt sicherlich eine Gruppe von Leuten in Davos, die ökonomisch weniger profitiert von dieser bestimmten Besuchergruppe, und womöglich machen die jetzt Druck. Hinzu kommen wohl auch negative Gefühle gegenüber Juden, Ressentiments, die bei manchen bestehen. Das ist auch anderswo so. Aber ich frage Sie: Haben Sie schon einmal davon gehört, dass man an einem Urlaubsort eine ganze Gruppe von Touristen pauschal nicht mehr haben will, weil einige wenige sich danebenbenehmen? Es gibt sicher auch russische oder arabische Besucher in Davos, die sich nicht an die örtlichen Gepflogenheiten halten, oder meinetwegen auch Eishockeyfans. Aber diesbezüglich hört man nie irgendwelche Forderungen.
Der SIG hatte eine Kooperation mit dem Tourismusverband Destination Davos Klosters, die jetzt beendet wurde. Was war Ihre Reaktion?
Seit 2018 haben wir haben versucht, vor Ort interkulturelle Vermittler zwischen Lokalbevölkerung und Besuchern einzusetzen. Das ist auch gelungen - anders, als das jetzt dargestellt wird. Aber der Tourismusverband hat uns ziemlich nonchalant per E-Mail die Zusammenarbeit aufgekündigt mit dem Argument, wir würden die Probleme nicht lösen – ganz so, als ob wir die Tourismuspolizei in Davos seien.
Reto Branschi sagt, das Projekt habe nicht die gewünschten Ergebnisse geliefert. Was entgegenen Sie?
Wir werden jetzt noch ein Abschlussgespräch haben, um das Projekt würdig zu beenden. Aber im Grunde genommen hat Destination Davos Klosters alle Brücken eingerissen und bei vielen den Eindruck erweckt, dass man orthodoxe jüdische Leute abschrecken wird. Und für uns ist es eine Eskalation, wenn man mit dem offiziellen Verband der Schweizer Juden nicht mehr zusammenarbeiten will. Es ist schon einzigartig, dass der Chef einer Tourismusorganisation dermaßen unverblümt das Verhalten Einzelner auf eine ganze Gruppe runtermünzt. Man kann zwischen den Zeilen herauslesen, dass bestimmte Gäste nicht mehr gewollt sind.
Würde das denn gelingen?
Nie und nimmer. Davos ist seit vielen Jahren ein Touristenmagnet für Juden. Außerdem agiert dieser Verband doch ziemlich kopflos; er wirkt überfordert. Will er am Ende die ganze Stadt in Geiselhaft nehmen? Davos lebt vom Tourismus, und öffentliche Äußerungen wie die von Herrn Branschi können einen immensen Reputationsschaden anrichten, der am Ende auch der lokalen Bevölkerung weh tun würde. Umgekehrt sollten auch wir nicht pauschal urteilen und alle in einen Topf werfen.
Davos ist international für das alljährliche Weltwirtschaftsforum berühmt, das sich auch für den interkulturellen Dialog stark macht. Haben Sie schon mit den Verantwortlichen des Forums gesprochen? Wie bewerten die den Vorgang?
Das haben wir noch nicht. Aber ich muss sagen, ich bin schon etwas enttäuscht über die Reaktionen der Öffentlichkeit oder besser: das Ausbleiben von Reaktionen. Bislang zumindest hat sich kaum jemand entrüstet über die Aussagen des Herrn Branschi.
Davos war während der Nazi-Zeit auch Stützpunkt des NSDAP-Landesgruppenleiters für die Schweiz, Wilhelm Gustloff. Hat sich Davos dieser Vergangenheit gestellt?
Bis heute hat sich die Stadt dieser dunklen Geschichte nicht so recht gestellt. Aber das ist Vergangenheit. Wir müssen über die Gegenwart und die Zukunft sprechen. Dass der Davoser Tourismus-Direktor heute derart gegen seine jüdischen Gäste wettert und versucht, ein Dialog- und Vermittlungprojekt zu diskreditieren, enttäuscht mich und lässt mich ratlos zurück.
Mit dem Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes sprach Michael Thaidigsmann.