judentum

ist ein judentum ohne religion möglich?

An den Menschen glauben
von Yves Kugelmann

Ist ein Judentum mit Religion möglich? Die jüdische Gegenfrage ist mehr als dialektische Polemik. Sie ist der Weg zur ungeliebten Antwort. Judentum ist Existenzialismus, Freiheit, Grenzüberschreitung. Judentum hat trotz der jüdischen Religion überlebt und hat sich nicht auf sie reduzieren lassen. Judentum hat die Religion überwunden und ist längst über sie zu einer säkularen, heterogenen, quellenverbundenen Undefinierbarkeit hinausgewachsen, mit der sich nicht wenige schwertun.
Judentum hat sich am Widerstreit mit dem Mythos, dem Ewigen, dem Nichtverstehbaren herauskristallisiert und einen Weg eingeschlagen, der eine zeitlos starke Kultur, eine kontinuierliche Geschichte, eine oder mehrere Sprachen immer mit dem Umfeld verbindet, das das Judentum in jeder Zeit umgeben, gefördert, bekämpft, vernichtet hat. Judentum ist monotheistisch und doch nicht zentralistisch. Judentum ist nicht einheitlich, sondern immer wieder anarchistisch. Judentum ist ein Biotop, Judentum ist Avantgarde, Judentum ist aus dem Streit hervorgegangen – Judentum ist all dies und erst recht dann, wenn es sich nicht auf die Religion beruft.
Evas Ungehorsam und die Vertreibung aus dem Paradies, Abrahams Wortkampf wider Gott auf der Suche nach den Gerechten, Jakobs List, Moses’ Revolte, das aufmüpfige Volk in der Wüste und die Hingabe zum Goldenen Kalb, das Ende der Prophetie, der Bruch mit Gott oder der Bruch Gottes mit den Menschen während der Zerstörung des Zweiten Tempels, schließlich die talmudische, die säkularisierte Debatte frei von jedem Glaubensbekenntnis – alles Kampf gegen Gott, gegen Glauben, gegen Religion, gegen Reduktion auf Spiritualität.
Judentum kommt seit langem ohne Gott aus. Dort, wo er in den Quellen vorkommt, war er eher Störfaktor denn respektierter Schöpfer. Die Mehrheit der Juden, die Indifferenten, die Traditionalisten, ein Großteil der Zionisten und Kulturzionisten lebt einen toten Glauben oder einen lebendigen Unglauben. Die Mehrheit der Juden lebt säkular in einer säkularen Welt und glaubt eher, an Gott zu glauben, als tatsächlich zu glauben.
Viele werden wohl argumentieren, die Religion sei der innere Kitt des Judentums. Wenn es denn so sein sollte, dann allenfalls der Glaube an das Göttliche, der Glaube an die Schrift, die frei ist von Glaubensätzen und Dogmen. Was bleibt, sind ethische Ge- und Verbote in ihrer säkularisierten Form. Denn Judentum ist ohne Gott, ohne Glauben durchaus möglich, vielleicht möglicher als mit.
Hätte sich Judentum auf die Religion verlassen müssen, dann wäre es längst von den Menschen verlassen worden. Denn der Glaube, das Transzendente greift zu kurz, gerade dann, wenn keine Angst vorherrscht. Und es waren wohl die großen, die wichtigen Denkerinnen und Denker, die bedeutenden Rabbiner, die mehr an die Menschen als an Gott glaubten.
Doch gerade heute töten jene das Judentum, die es auf eine buchstabengetreue Lebensart reduzieren wollen, die dem Judentum das Sinnliche nehmen, es auf einen fundamentalistischen, orthodoxen, geradezu judentumsfremden dogmatischen Glaubenskodex beschränken möchten. Es ist kein Zufall, dass Rabbiner eher Lehrer und Seelsorger als Geistliche und Gottesvertreter waren. Und wahrscheinlich war Gott nur Chiffre oder Metapher – das große Unbekannte, das nicht beweis-, allenfalls glaubbare Irrationale.
Spinoza, Heine, Freud, Herzl, Sholem, Einstein, Kafka, Arendt, Ben Gurion, Golda Meir und die vielen anderen waren a-religiöse Jüdinnen und Juden – und gleichsam verkörpern sie Judentum wie wenige andere. Sie waren Judentum. Sie lebten Judentum. Die Assimilation war vielleicht wichtiger für das Judentum als viele wahrhaben wollen. Sie begründete die Erneuerung und war mehr Rück- als Abkehr.
Das Judentum wird dann überleben, wenn die Religion es nicht frisst, wenn die Ideologisierung es nicht tötet, der Nationalismus es nicht aushöhlt und der Fundamentalismus es nicht verdrängt. Es gibt – und wird es immer geben – Judentum. Trotz Religion.
Zusammengehörig
von Rabbiner Joel Berger

Zunächst möchte ich bemerken, dass die Formulierung der Fragestellung in dieser Form von der traditionellen jüdischen Einstellung her keine genaue Antwort ermöglicht. Der Begriff »Religion« – als eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phäno- mene – stammt aus dem christlichen Kontext und stimmt daher mit jüdischen Vorstellungen nicht überein. Ähnlich sieht es mit dem Begriff »Konfession« aus, der in der Theologie die »Zusammenfassung christlicher Glaubenssätze« darstellt. Daher müsste die Fragestellung, damit ein Rabbiner darauf eine Antwort geben kann, lauten: Ist ein Judentum oder Judesein ohne Glauben, Tora und Mizwot (verbindliche Gebote) vorstellbar?
Ich möchte zunächst entgegenhalten, dass das Judentum eine historisch-organisch entwickelte Gemeinschaft darstellt. Die Charakteristika unserer Gemeinschaft sind voneinander untrennbar: Religion (oder Kultus) und Nation (als Festhalten an unserem Volkscharakter und dessen Eigenschaften) – Glaube und Volkstum. Dieser »Doppelcharakter« ist seit frühesten Epochen gegenwärtig. So sagt schon der Prophet Jona: »Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den G’tt des Himmels« (Jona 1:9).
Es soll noch erwähnt werden, dass der Grundstein, auf dem das Judesein ruht, die Offenbarung (am Berge Sinai) ist. Aus dieser lassen sich die Tradition und ihre Aktualisierung in einer ständigen und ununterbrochenen Wechselwirkung verstehen. Ich weise auf die Aggada im Talmudtraktat Menachot 29b hin, in der G’tt dem Rabbi Akiba, einem Gelehrten der späteren Generation, Moses vorstellt. Akiba wird von seinen Schülern gefragt, womit er in einem konkreten Fall einen bestimmten Sachverhalt begründe. Er antwortet: Das ist eine »Halacha unseres Meisters Moses aufgrund der Offenbarung am Berg Sinai«. Moses nimmt Rabbi Akibas Antwort erleichtert zur Kenntnis, da sie ihm zeigt, dass man sich noch in späteren Generationen auf die Tora beruft.
Zu den charakteristischen Eigenarten des Judentums gehört das Nichtvorhandensein eines Dogmas (unumstößliche Glaubenswahrheit) und dementsprechend das Fehlen einer »dogmatischen Theologie«, einer systematischen Zusammenfassung des Wissens über G’tt. Stattdessen berufen wir uns auf die »dreizehn Eigenschaften G’ttes« (2. Buch Moses 34,6-7). Das Judesein ohne Glauben, Tora und Mitzwot wäre eine Destillierung des Judentums auf neutrale, kulturelle Werte, die letzten Endes sein Aufhören und Verschwinden mit sich bringen würde. Der erste, der in einer dunklen Epoche der Geschichte unseres Volkes ein »destilliertes Judentum« präsentierte, war der zum Paulus gewordene Schaul. Er versuchte, das Judentum auf seinen »Heiland« und die angebliche »Erlösung« am Ende der Zeit zu beschränken. Für das jüdische Volk hatte das, wie wir wissen, verheerende Folgen. Die »Destillierer« der modernen Zeit versuchen mit anderen Mitteln, eine säkulare jüdische Kultur zusammenzubasteln, ohne zu bedenken, dass sie damit die jüdische Zukunft aufs Spiel setzen könnten.
Seit der Zerstörung des zweiten Bet Hamikdasch (Tempel) galt unser Volk als staatenlos. Jedoch auch ohne einen Staat blieb es eine Gemeinschaft (Kahal Kadosch), wohl auch ein Volk in der Diaspora, über alle Zeiten hindurch. Die Elemente des integrierenden Bekenntnisses waren und sind: 1.) das Lehrhaus (die Synagoge, Bet Haknesset = Haus der Versammlung), 2.) das Studium, 3.) der Schabbat und die Feste, die überall nach den gleichen Regeln begangen werden, und 4.) die Sprache des Kultes und des Studiums: Hebräisch. Nehmen wir noch die Zusammengehörigkeit durch die »eindeutig zuzuordnende Geburt« hinzu, so kann man auf das Fortbestehen des Judentums hoffen. Die Aufgaben, die uns unsere Zeit stellt, sind: Lehren und Lernen bewahren und unsere traditionelle Lebensform fortführen. Auf der Bühne der Welt sind im Rahmen der Globalisierung jene Völker und Zivilisationen angekommen, für die unsere Bibel, Kultur und Tradition keine Referenzpunkte sind, die weder Abraham und Sara, Jitzchak und Riwka, Jakob, Rachel und Lea noch Sinai kennen. Mit der Pflege der säkularisierten Kultur sind wir Einer unter Vielen, die irgendwann in der Mehrheit untergehen werden.
Das Studium der Tora und die Mizwot bezwecken, die zwischenmenschlichen Beziehungen nach ethischen Grundsätzen auszurichten, sich für eine Gesellschaft einzusetzen, die allen Gerechtigkeit gewährt, in der G’tt Einlass findet und wo Glück den Sinn des Lebens sichert. Der Philosoph Emmanuel Lévinas schrieb: »Die Ethik ist die Optik G’ttes.« G’tt selbst aber ist nur durch meinen Nächsten erfahrbar, denn »er half dem Elenden und Armen zum Recht, und es ging ihm wohl« (Jeremia 22,16).
Auch Hans Küng führt in seinem Buch Das Judentum von 1991 aus: »Dieser eine G’tt der ganzen Menschheit hat nun freilich unter allen Völkern das Volk Israel in besonderer Weise erwählt. Der eine G’tt und Sein Volk und Land: Hier stoßen wir zum Zentrum des israelitischen Glaubens vor, das für die stets neue Identitätsfindung und Konsensbildung im Judentum von fundamentaler Bedeutung ist.« Dies hat der christliche Theologe Küng völlig richtig erkannt.

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