Nur eine Vorstufe
von Rabbiner Shraga Simmons
Wie hat G’tt die Welt erschaffen? Der Tora-Kommentator Raschi sagt uns, dass G’tt am Ersten Tag den Keim zu Allem erschaffen hat – und aus dieser Ursuppe entwickelten sich dann die verschiedenen Arten. (Genesis 1, 24; 2, 4) Wohlgemerkt schrieb Raschi dies nicht, um die Religion an moderne wissenschaftliche Erkenntnisse anzupassen – denn er lebte im elften Jahrhundert!
Der deutsche Rabbiner Samson Rafael Hirsch erklärte im 19. Jahrhundert, dass jeder der Schöpfungstage symbolisch für ein bestimmtes Stadium der Schöpfung steht. Wenn man die Tora liest, findet man die Beschreibung eines graduellen Prozesses von einfachen hin zu komplexeren Organismen: zuerst herumwirbelnde Gase, dann Wasser, aus dem sich dann das Festland erhebt, anschließend Pflanzen, Fische, Vögel, Säugetiere und schließlich der Mensch. Dieses Muster ähnelt doch sehr dem Evolutionsprozess, den die Wissenschaft beschreibt.
Es ist eine erstaunliche Erkenntnis, dass die Position der Tora sich nie verändert hat. Im Gegenteil, die Wissenschaft hat sich der Tora angepasst! Die Theorie des Punktualismus, die besagt, dass evolutionäre Veränderungen bei Organismen nicht gleichmäßig, sondern stoßweise verlaufen, ist ein weiterer Schritt zur Versöhnung von Judentum und Wissenschaft. Der Nobelpreisträger Arnold Penzias, der den Urknall erforscht hat, drückt es so aus: »Was wir durch unsere Teleskope sehen – den Flug der Galaxien –, ist das, was Maimonides durch metaphysische Versenkung sah.«
Natürlich gibt es einen Punkt, an dem die Tora und die Evolutionstheorie auseinandergehen. Die Bibel sagt, dass dies alles nicht durch Zufall geschah. G’tt ließ es geschehen. Die große Frage lautet: Ist der Mensch nur ein Affe mit etwas mehr Grips, oder etwas qualitativ völlig anderes? Die Tora sagt uns, dass G’tt Adam den Odem einhauchte, wodurch sich der Mensch von allen anderen Geschöpfen unterscheidet. (Genesis 2, 7)
Jetzt ließe sich fragen, was macht das für einen Unterschied? Nun, das Judentum lehrt uns, dass der Zweck unseres Daseins darin besteht, alles, was es auf der Welt gibt, dazu zu benutzen, G’tt näher zu kommen und dadurch das Leben zu heiligen. Aber nur ein Wesen mit einer Seele verfügt über das »spirituelle Bewusstsein«, das nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn man diesen Aspekt des Daseins – die Seele – wegdenkt, dann ist die ganze Welt letztlich bedeutungslos und wir alle wären nichts weiter als eine zufällige Ansammlung von Molekülen.
Die Physik ist nur ein Weg, der zu einem tieferen Verständnis der Geheimnisse der Metaphysik führt. Maimonides schreibt: »Diejenigen, die das Studium der Mathematik und Logik betreiben, umkreisen den Palast des Königs auf der Suche nach dem Tor. Das Studium der Naturwissenschaft gewährt Zutritt zum Vorhof. Die Beschäftigung mit Metaphysik führt in den Palast hinein. Und erst die höchste Stufe der Vernunft führt vor den König.« Der König, das ist natürlich G’tt.
Was die wissenschaftlichen Besonderheiten der Schöpfung angeht, so lehrt das Judentum, dass uns nicht alle Details enthüllt sind, weil wir sie nicht verstehen würden. Der Talmud erklärt: Warum beginnt die Tora mit dem Buchstaben Beth? Das Beth ist in drei Richtungen geschlossen und nur in einer Richtung offen – in der Vorwärtsrichtung. Ebenso gibt es viele Dinge, die vor dem Bericht der Tora geschehen sind und die wir nicht verstehen können. Und welches ist der einzige Buchstabe, der dem Beth vorangeht? Das Aleph, der erste Buchstabe des Alphabets, der den numerischen Wert Eins besitzt und damit den Einen und Einzigen G’tt repräsentiert. Daraus folgt, dass vor der Schöpfung nur eines existierte: G’tt.
Offener Prozess
von Bas Kast
Gott und Evolution – geht das zusammen? Es gab einmal eine Zeit, da musste man einfach glauben. Wahrscheinlich wäre man ohne Gott verrückt geworden. Wie sonst hätte man sich die Welt da draußen erklären sollen? Wie hätten wir uns selbst erklären sollen? Wer hatte uns, die Erde und die Arten und das Universum, geschaffen?
Ich denke, vor 1.000 oder 2.000 Jahren wäre ich zutiefst gläubig gewesen. Aber die Zeiten haben sich geändert.
Seit Charles Darwin wissen wir, woher die Arten kommen und damit auch, woher wir selbst kommen: Wir sind das Ergebnis einer langsamen Entwicklung, die mit ganz einfachen Molekülen anfing und in so etwas Komplexem »endete« wie Menschen oder Elefanten.
Dabei ist die Evolutionstheorie in vieler Hinsicht völlig anders als die Schöpfungstheorie – und damit sind die beiden auch völlig unvereinbar. Die Schöpfungstheorie hilft uns beim Verständnis dieser Welt insofern, als sie uns sagt, dass Gott binnen sechs Tagen unser Universum und unsere Erde und die Arten schuf, um sich am siebten Tag auszuruhen.
Was geschah dann? Ab diesem Punkt lässt die Schöpfungstheorie uns im Stich. Sie sagt: Nichts dann, dann war alles da und Schluss.
Ganz anders Darwins Evolutionstheorie. Nach Darwin dürfen wir davon ausgehen, dass alle Arten, die wir um uns herum sehen, nicht das letzte Wort sind. Wir sind Teil einer Evolution, die immer noch anhält, angetrieben vom Konkurrenzkampf.
Um ein konkretes Beispiel zu bringen: Mit Hilfe der Schöpfungstheorie würde man nie auf die Idee kommen, dass auf unserer Erde immer wieder neue Bakterien und Viren entstehen. Die Schöpfung ist schließlich vollbracht. Warum also sollten sich Bakterien mit neuen Eigenschaften entwickeln, Bakterien etwa, die resistent sind gegenüber Antibiotika? Würde die Schöpfungstheorie unsere Wirklichkeit richtig beschreiben, müssten wir uns auch nicht vor der Vogelgrippe fürchten. Für denjenigen, der die Welt durch die Brille der Evolutionstheorie sieht, ergeben beide Beispiele sofort einen Sinn: Die Arten sind eben nicht das Resultat einer einmaligen Schöpfung, sondern im ständigen Wandel, sie passen sich an die Umwelt an. Bakterien passen sich an Antibiotika an, Vogelgrippeviren an neue Wirte – und dazu gehören leider auch wir.
Es gab einmal eine Zeit, da hat die Welt um uns herum nur Sinn gemacht mit Gott. Inzwischen aber ergibt sie fast mehr Sinn ohne Gott. Es gibt inzwischen weitaus bessere Hypothesen als die Hypothese Gott. Die Evolutionstheorie ist eine davon: Die Welt ergibt heute viel mehr Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es keinen Schöpfer gibt, sondern dass sie das Resultat einer Entwicklung ist, die immer noch anhält. Anders gesagt: Früher hat die Hypo- these Gott die Welt einmal erklärt, heute steht sie den Erklärungen eher im Wege!
Denn letztlich versperrt die Hypothese Gott den unbefangenen Blick auf die Welt und auf uns selbst. Wer an Gott und die biblischen Erklärungen dieser Welt glaubt, geht mit einer vorgefertigten Schlussfolgerung auf die Welt zu – statt abwartend und offen.
Oft heißt es, die Wissenschaft sei kalt, in Wahrheit aber ist ihr Weltbild offen und zutiefst anti-autoritär. Eine wirklich wissenschaftliche Haltung besagt: Ich versuche mit der bestmöglichen Hypothese, die ich habe, einen Reim auf das zu machen, was mich umgibt. Sobald die Wirklichkeit mir mehr von ihrem Reichtum verraten hat, werde ich die alte Hypothese unter Umständen verwerfen.
Gott dagegen ist heilig, das heißt, die Hypothese Gott soll nicht angegriffen werden. Im Gegenteil, man muss ja explizit daran glauben. Wissenschaft dagegen tickt genau umgekehrt: Sie legt uns nahe, nicht an sie zu glauben und alles in Zweifel zu ziehen. Sie sagt: Bitte, kritisiere mich, finde meine Schwachstelle! Finde mehr heraus über diese Welt, korrigiere das alte Weltbild und ersetze es durch ein Neues! Gerade diese Haltung treibt an zu neuen Entdeckungen.
Es mag sein, dass Glaube und Evolution bei oberflächlicher Betrachtung vereinbar sind. Wenn man genauer hinguckt aber, merkt man schnell, dass es sich um zwei grundverschiedene Arten handelt, auf diese Welt zuzugehen. Ich bevorzuge die offene Art. Die Art, die mich immer wieder überrascht, die täglich etwas Neues zu bieten hat. Die zuerst die Welt studiert und dann ihre Schlussfolgerungen zieht und die bereit ist, ihre Hypothesen immer wieder zu verwerfen, wenn die Wirklichkeit das fordert.
Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass die offene Haltung der Wissenschaft religiöser ist als mit einer fertigen Schlussfolgerung im Kopf auf die Wirklichkeit zuzugehen – und vor lauter Schlussfolgerung die Wirklichkeit gar nicht mehr zu sehen.