Momentan könnte mein Tag 30 Stunden haben. Ich stecke mitten in den Vorprüfungen fürs Fachabitur, und alle anderen Dinge laufen weiter so wie früher: Mit unserer Tanzgruppe in der jüdischen Ge- meinde proben wir gerade traditionelle Tänze. Die werden wir in Leipzig, Chemnitz und Dresden bei Veranstaltungen zum Unabhängigkeitstag Israels aufführen. Wir treffen uns immer montags zum Üben. Dienstag und Donnerstag ist Religionsunterricht, und mittwochs bereite ich mich mit einigen Mitschülern für die Englischprüfung vor. Nur freitags halte ich mir den Nachmittag immer frei, da fahre ich nach der Schule sofort nach Hause, um alles für den Schabbat vorzubereiten. Sonntags gehe ich oft ins Jugendzentrum der Gemeinde hier in Leipzig. Manchmal fahre ich auch nach Chemnitz oder Dresden, um in dort Freunde zu treffen. Den Hebräischkurs für Anfänger, den ich normalerweise in unserer Gemeinde gebe, kann ich bis zum Mai nicht halten – ich wüsste nicht, wann ich das noch tun sollte.
Momentan habe ich keinen einzigen freien Nachmittag in der Woche – nix mit spontanen Treffen oder einfach mal ausruhen. Aber ich kann trotzdem nicht klagen. In der Schule und auch sonst läuft’s eigentlich ganz gut, nur Sport ist das einzige wirklich fürchterliche Fach. Aber bald ist das Abitur geschafft, und dann werde ich erstmal tief durchatmen. Wie es danach weitergeht, weiß ich noch nicht genau. Auf keinen Fall möchte ich sofort mit dem Studium beginnen. Vielleicht mache ich ein freiwilliges Jahr in Israel. Dabei könnte ich das Land besser kennenlernen und mir ein Bild vom Alltag dort machen. Mein Freund lebt in Israel, er ist gerade bei der Armee. Manchmal denke ich daran, für immer dorthin zu gehen. Aber ich möchte nichts überstürzt entscheiden, sondern mir Zeit lassen. Erst vor vier Jahren bin ich mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester Anat nach Deutschland gekommen. Damals war ich 15. Ich bin in Cernowitz in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Ich ging dort auf eine jüdische Schule, wir hatten ab der ersten Klasse Hebräisch.
In der Leipziger Gemeinde bin ich aktiv, seitdem ich das erste Mal hingegangen bin: Ich wurde herzlich aufgenommen, habe mich von Anfang an sehr wohl gefühlt und fand hier meine ersten Freunde. Viele kommen wie ich aus der ehemaligen Sowjetunion, auch sie mussten sich erst hier eingewöhnen, das schafft neben der Religion ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber auch zu deutschen Jugendlichen bekam ich ziemlich schnell Kontakt. Nach dem halbjährigen Deutschkurs konnte ich mich einigermaßen verständigen. In der Schule war es für mich anfangs sehr anstrengend, es fiel mir schwer, dem Unterricht zu folgen. Ich habe mir Mühe gegeben, auch in meiner Freizeit so viel wie möglich Deutsch zu sprechen. So ging es schnell bergauf, ich wiederholte die zehnte Klasse der Realschule und kam danach aufs Gymnasium. Lernen, lernen, lernen – das ist das Wichtigste. Man darf nie damit aufhören, dann erreicht man auch seine Ziele. Das mag altklug klingen, ist aber die Wahrheit. Ein Ziel habe ich jetzt fast erreicht: das Abitur. Wenn das geschafft ist, werde ich mir das nächste setzen. Und vielleicht hat es mit Israel zu tun.
Schon als kleines Mädchen habe ich davon geträumt, dorthin zu reisen. Ich wollte alles über das Land meiner Träume wissen. Durch den Hebräisch- und den Religionsunterricht hat sich dieser Wunsch im Laufe der Jahre noch verstärkt. Ende letzten Jahres hat es dann endlich geklappt: Ich war mit einer Jugendgruppe zehn Tage in Israel. Vieles war genau so, wie ich es mir all die Jahre zuvor vorgestellt habe. Aber die Zeit war viel zu schnell um. Seitdem ich dieses Land gesehen habe, denke ich sehr oft über meine Zukunft nach.
Im Februar hat es sich ergeben, dass ich mich noch einmal auf den Weg nach Israel machen konnte: Meine beste Freundin Julia, die ich seit der ersten Klasse kenne, lud mich zu ihrer Hochzeit ein. Sie war zum gleichen Zeitpunkt mit ihren Eltern nach Israel gegangen wie ich mit meiner Familie nach Deutschland. Trotz der großen Entfernung haben wir den Kontakt über die letzten vier Jahre immer aufrechterhalten. Vor zwei Jahren haben wir uns dann einmal in der Ukraine getroffen und uns beide riesig über das Wiedersehen gefreut. Ja – und nun war ich auf ihrer Hochzeit. Ihr Mann kommt auch aus der Ukraine. Hier in Deutschland ist es eher ungewöhnlich, dass ein Mädchen schon mit 19 Jahren heiratet. Aber in Israel ist das nichts Seltenes. Es war eine tolle Feier. Wir haben viel gelacht und getanzt, aber vor allem geredet über die Unterschiede des Lebens in Deutschland und Israel, unsere Träume und Pläne. Insgesamt war ich zwei Wochen dort, ich habe viel gesehen, viel erlebt. Ich habe dort zum Beispiel auch eine andere Freundin getroffen, die ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich war bei unterschiedlichen Familien eingeladen und konnte so das ganz normale Leben kennenlernen. Das alles hat mir sehr gefallen. Israel ist nun nicht mehr das Land meiner Träume, sondern ein Ort, an dem es sich durchaus zu leben lohnt.
Aber auch in Leipzig lebt es sich gut. Mittlerweile fühle ich mich hier in jeder Hinsicht zu Hause: Freunde, Familie, Gemeinde, Sprache – alles habe ich hier. Abgesehen davon ist Leipzig wirklich eine tolle Stadt, die viel zu bieten hat. Dennoch weiß ich nicht, ob ich auf lange Sicht hier bleiben werde. Israel zieht mich magisch an. Dieses Land vermittelt mir ein anderes Gefühl von Heimat. Ich kann es nicht erklären, aber es ist ein starkes Gefühl. Ich hoffe, dass mir das Jahr dort mehr Klarheit bringt.
Meine Mutter fragte mich neulich, wann ich denn mein freiwilliges Jahr in Israel beginnen möchte. Als ich ihr antwortete: »Im Herbst soll es losgehen!«, war sie ganz erschrocken und meinte: »Was, schon?« Sie möchte mich lieber hier behalten. Trotzdem würde mir meine Familie niemals Steine in den Weg legen. Alle stehen hinter mir und unterstützen mich – ganz gleich, wo ich gerade bin. Das ist ein gutes Gefühl. Es macht mich stark und sicher.
Noch habe ich einen ukrainischen Pass – die Zeit wird zeigen, ob ich ihn eines Tages gegen einen deutschen oder einen israelischen eintausche.
Aufgezeichnet von Gundula Lasch