von Moritz Piehler
Die junge Frau am Eingang der ehemaligen Dubliner Synagoge in der Walforth Road schüttelt traurig den Kopf. »Sie hätten vor ein paar Monaten kommen müssen, Raphael hätte Ihnen alles über die Geschichte der Juden in Irland erzählen können.« Die Frau mit dem sehr irischen Namen Sinead Costello spricht von Raphael Siev, der Irlands jüdisches Museum 1985 gegründet hatte und lange Jahre als Kurator des Hauses die jüdische Geschichte das Landes festgehalten und vermittelt hat.
Im Januar dieses Jahres ist er gestorben, kurz vor seinem 74. Geburtstag. Der Anwalt hatte die Hochzeiten von Dublins »Little Jerusalem« miterlebt. Im einstigen Zentrum irisch-jüdischen Lebens, dem Dreieck zwischen Portobello Road, Dolphin’s Barn und South Circular Road, wurde er 1935 geboren, und hier wuchs er auf.
Schon als junger Mann sammelte Siev Schriftstücke und zeitgeschichtliches Material mit der Absicht, eines Tages ein Museum zu gründen. Allerdings sollte es noch viele Jahre dauern, bis es am 20. Juni 1985 eröffnet wurde – bei einem Staatsbesuch von Israels damaligem Präsidenten Chaim Herzog. Er kannte die irisch-jüdische Geschichte sehr gut, denn er wurde in Belfast geboren, und sein Vater war später Oberrabiner von Irland.
Die jüdische Gemeinde auf der grünen Insel ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr geschrumpft. Lebten nach dem Zweiten Weltkrieg noch etwa 5.500 Juden in Irland, zählen die Gemeinden heute weit weniger als die Hälfte. Nennenswerte Gemeinden gibt es nur noch in Dublin, Belfast und Cork.
Einer der Gründe dafür, dass die Gemeinde heute so klein ist, liegt in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die irische Regierung wollte die Neutralität des Landes nicht riskieren und nahm deshalb keine jüdischen Flüchtlinge auf. Das sei die große Tragödie der jüdischen Geschichte in Irland, meinen heute viele. »Eine Schande für die irische Regierung!«, sagt Museumsmitarbeiterin Costello.
Tatsächlich spielten neben der Sympathie mit Hitlers Deutschland, dem Gegner von Irlands Erzfeind England, auch antisemitische Beweggründe eine Rolle. Das Justizministerium wollte sich kein »Judenproblem« ins Land holen und bediente sich dabei der deutschen NS-Rassengesetze. Kritische Stimmen verhallten ungehört. Selbst Irlands Präsident Eamon de Valera, weit davon entfernt, Antisemit zu sein, hielt sich zurück. Erst als nach dem Krieg rund 100 Waisen aus dem KZ Bergen-Belsen abgewiesen werden sollten, hob de Valera, der als Widerstandskämpfer selbst lange Zeit in politischer Haft war, die Entscheidung des Justizministers auf.
Auch wegen der schwachen irischen Wirtschaft und der Tradition als Auswandererland nahm die jüdische Gemeinde in den Jahren nach dem Krieg weiter ab. Die Staatsgründung Israels veranlasste viele Juden dazu, Irland den Rücken zu kehren.
Heute befinden sich die Synagogen der größten Gemeinde des Landes in den Vororten Dublins. Die einzige jüdische Einrichtung im früheren »Little Jerusalem« ist das Museum. Dort kann man zwischen Originaldokumenten und Fotos stöbern, die vom jüdischen Leben auf der Insel erzählen. Von den vielen Geschäftsschildern, die der Besucher auf Schwarzweißfotos sehen kann, gibt es im heutigen Stadtbild keine mehr. Die Fleischerei Rubinstein ist längst geschlossen, und bei »Mr Cohen and Sons« in der Liffey Street werden auch keine Antiquitäten mehr verkauft.
Der jüdischen Gemeinde auf der grünen Insel fehlt der Nachwuchs. »Junge Juden haben kaum mehr die Möglichkeit, in Irland einen jüdischen Partner kennenzulernen«, sagt Costello, die Raphael Siev in ihrem Beruf als Anwältin kennenlernte und seitdem ehrenamtlich im Museum arbeitet. »Viele gehen nach der Ausbildung nach England, wo es größere Gemeinden gibt.«
Dabei war das Gemeindeleben in Irland früher sehr stark. Das belegen die Fotos von Jugendgruppen und Sportereignissen, die im Museum zu sehen sind. Selbst in die irische Nationalauswahl schafften es einige jüdische Sportler, Bethel Solomons sogar in der urbritischen Sportart Rugby. Von 1914 bis 1922 trug er zehnmal das Nationaltrikot.
Viele Menschen seien überrascht, sagt Costello, dass Irland überhaupt eine jüdische Geschichte hat. Das Museum soll helfen, sie wachzuhalten. Besonders freut es die ehrenamtlichen Mitarbeiter, wenn Nachbarn aus dem Viertel hereinschauen.
»Ich wohne direkt um die Ecke«, sagt ein junger Mann. »Ich wollte schon immer mal vorbeikommen, stand aber samstags immer vor verschlossener Tür.« Costello lächelt freundlich und erklärt dem Mann, warum das so ist.
»Raphael hatte vor seinem Tod geplant, das Museum zu erweitern«, sagt sie. »Wir suchen gerade nach der Finanzierung und einem Konzept.« In Abstellräumen lagern noch unzählige Ansichtsstücke der jüdischen Vergangenheit und warten darauf, der Öffentlichkeit gezeigt zu werden. »Ich finde es wichtig, dass wir unsere Arbeit im Gedenken an Raphael fortführen«, betont Costello. Dann schließt sie die Tür zu dem unscheinbaren Backsteinhaus in der Walforth Road, und nur eine kleine Plakette verrät von außen, dass es sich um ein Museum handelt.