von Chajm Guski
Die Parascha Noach erzählt zwei Geschichten, die nahezu gleichermaßen bekannt und beliebt sind. Da ist zum einen die Geschichte von Noach und seiner »Tewa« – so die Bezeichnung dessen, was hinlänglich als »Arche« bekannt ist. Kaum ein Kind kennt die Geschichte nicht. Und auch der Turmbau zu Babel kann von vielen Menschen leicht nacherzählt werden.
Diese Geschichten mit einer scheinbar einfachen Handlung haben ihre ganz eigene Faszination entwickelt. Doch ausschließlich für Kinder ist keine der beiden Geschichten. Der Turmbau zu Babel inspirier- te Künstler und später auch Philosophen. So schuf der Philosoph Walter Benjamin den Begriff »Adamitische Sprache«. Damit bezeichnete er die von Adam und Chawa gesprochene, wenngleich hypothetische Sprache des Paradieses, die vor dem Turmbau von allen Menschen gesprochen worden sei. In ihr sind Wort und bezeichneter Gegenstand ideal miteinander verbunden.
Natürlich legen diese kurzen Texte nahe, sie seien einfach zu deuten und verführen zum oberflächlichen Lesen, ohne auf Details zu achten. Berichtet man den Kindern auch davon, dass Noach nach der Flut mit seiner Familie in einer entvölkerten Welt leben muss und sich betrinkt?
Nach Noach und der Genealogie der verschiedenen Völker, die von Noachs Söhnen abstammen, folgt der kurze Abschnitt über den bekannten Turmbau zu Babel. Hier stellt sich die Frage, worin der Fehler der Menschen tatsächlich lag. Denn der Plan, den Turm zu bauen, wird ja von Gott vereitelt. Liegt das Vergehen allein darin, dass der Mensch versucht, einen hohen Turm zu bauen, der den Himmel berührt? Ein genauer Blick in den Abschnitt öffnet Türen zu neuen Interpretationen.
Zu Beginn der Episode vom Turm in Babel heißt es im 1. Buch Moses 11,4: »Kommt«, sprachen die Menschen, »lasst uns für uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze im Himmel ist.« Im hebräischen Original heißt es: »Hava niwneh lanu ir – Kommt, lasst uns für uns eine Stadt bauen«. Das Schlüsselwort hier ist »lanu« – »für uns«. Wenn man sich anschaut, wer diese Sätze spricht, wird der Ausspruch etwas klarer: Diejenigen, die Ziegel formen können und in der Lage sind zu bauen. Dies traf mit Sicherheit nicht auf die gesamte Bevölkerung Babels zu. Das neue Projekt war nur für die Bauherren selbst bestimmt. Dies erklärt zugleich den zweiten Teil des Verses »... damit wir uns einen Namen machen und nicht über die ganze Erde verstreut werden«. Beim Aufbau der Stadt ging es nicht um den Aufbau oder die Befestigung eines sozialen Gebildes oder eines Gesamtprojekts mit einem Turm in der Mitte.
Zahlreiche Leser werden den Turm von den Bildern Pieter Brueghels des Älteren kennen. Er setzte die Schilderung aus der Tora gleich mehrmals groß ins Bild. Auf seinen Gemälden befindet sich die unfertige Spitze des Turms bereits in den Wolken. Im Vergleich zum Gebäude erscheinen die Arbeiter winzig klein. Brueghel stellt die riesige Entfernung vom Fuße des Turms bis zu seiner obersten Bauplattform dar und die Gerätschaften, die für den Bau nötig waren.
Ein Midrasch schildert die Ausmaße ähnlich groß. Der Turm sei zerstört worden, indem ein Drittel verbrannte und ein Drittel im Boden versank. Aber das letzte Drittel sei als Ruine übrig geblieben, und selbst dieses Drittel sei so groß, dass von oben betrachtet Palmen so winzig wie Grashüpfer aussahen. Weiter heißt es, das Gebäude sei so weit vom Erdboden entfernt gewesen, dass Steine für den Bau immer wertvoller wurden und bald ein Stein wertvoller war als das Leben eines einzelnen Menschen. Fiel ein Stein zu Boden, dann trauerte man um diesen, um Arbeiter jedoch nicht. All diese Bilder haben unsere Wahrnehmung des Textes beeinflusst.
Doch schließlich müssen die Arbeiten eingestellt werden, weil die Menschen sich nicht mehr verstehen. Rabbi Abba ben Kahana erklärt im Talmud, dass mit der Sprachverwirrung Chaos ausbrach. Fragte jemand nach einer Axt, wurde ihm eine Schaufel gereicht. Aus Ärger darüber hätte es Streit gegeben, und die Menschen hätten begonnen, sich gegenseitig zu töten.
Dabei berichtet die Tora nicht von einem wundersamen Ereignis, nach dem plötzlich einer den anderen nicht mehr verstanden hätte. So heißt es in Kapitel 11, Vers 7 lediglich: »Auf, lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache dort verwirren, dass einer die Sprache des anderen nicht verstehe«. Im folgenden Vers wird dann berichtet, dass die Menschen über die Erde zerstreut wurden. Es ist also plausibel anzu- nehmen, dass die Sprachen sich infolge der Zerstreuung entwickelt haben und nicht von einem Moment auf den anderen.
Der Fehler lag nicht allein darin, dass es Menschen gab, die den Turm für sich bauen und sich ein Denkmal setzen wollten. Der Fehler lag auch darin, dass die Menschen alle Werkzeuge hatten, um weiterhin in einem angenehmen, ja nahezu perfekten Umfeld zu leben. Sie waren mit einer Sprache vereint, lebten dicht beieinander und hätten folglich Großes erreichen können.
Der Turmbau von Babel setzt eine Reihe von Ereignissen seit der Schöpfung fort: Der Mensch erkennt den Unterschied zwischen Gut und Böse. Zuvor ging es dem Menschen gut, und er konnte unbekümmert im Paradies leben. Dann die Tatsache, dass das Leben des Menschen endlich ist. Ursprünglich war es nicht begrenzt. Die letzte Begrenzung der Menschheit ist nun ihre geografische und sprachliche Zerstreuung. Immer wieder hatte der Mensch sein »Paradies« vor Augen, doch nun muss er sich selbst darum bemühen und wieder eine gemeinsame Sprache finden. Die perfekte Welt, wie sie durch die Tora bekannt ist, muss der Mensch sich nun selbst aufbauen.
Den Bauplan dafür haben wir gerade begonnen zu lesen und sind am zweiten Wochenabschnitt angelangt. Für die nichtjüdische Welt enthält unser Abschnitt die sieben noachidischen Gebote, die für alle Menschen gelten. Laut dem Talmud (Sanhedrin 56a/b) sind dies: das Verbot zu morden, das Verbot zu stehlen, das Verbot der Götzenanbetung, das Verbot von Unzucht, das Verbot Tierquälerei, das Verbot von Gotteslästerung und das Gebot, eine Gerichtsbarkeit einzuführen.
Am Ende der Episode heißt es, wegen der Zerstreuung der Menschen habe das Bauwerk nicht fortgeführt werden können. Dahinter verbirgt sich eine scheinbar banale Einsicht: Ohne gemeinsames Anfassen kann es keinen Fortschritt geben. Einer ist auf die Hilfe des anderen angewiesen, und dies kann nur geschehen, wenn man eine gemeinsame Sprache spricht. Wie das gehen soll, wird die Tora uns verraten.
Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und Begründer des egalitären Minjans Etz Ami im Ruhrgebiet.