von Wladimir Struminski
Auf ihr Köpfchen sind die Israelis stolz. »Israel hat den weltweit höchsten Anteil von Fachingenieuren an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte« – wirbt das Industrieministerium um Auslandsinvestoren. »Ein kleines Land mit großen Ideen«, heißt es auch in einem eigens für Israels 60. Jubiläumsjahr komponierten Lied. Wohl wahr: Ob DiscOnKey, ISQ oder Firewall, modernste Mikroprozessoren oder raffinierte Software – vieles, was die moderne Welt in Bewegung hält, wurde am Ostrand des Mittelmeeres erfunden. Auch Nobelpreisträger bringt die israelische Wissenschaftsgemeinde immer wieder hervor, und zwar gerade in letzter Zeit. Bis 2002 waren drei Israelis – Menachem Begin, Jitzchak Rabin und Schimon Peres – mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden. Ein weiterer, Schmuel Josef Agnon, hatte sich vor über vier Jahrzehnten den Literaturnobelpreis mit Nelly Sachs geteilt. In diesem Jahrzehnt aber rückten vier Wissenschaftler in den exklusiven Nobel-Klub auf. Die Chemiker Aaron Ciechanover und Avram Hershko wurden 2004, die Wirtschaftswissenschaftler Daniel Kahneman und Robert Aumann 2002 beziehungsweise 2005 vom Nobelpreiskomitee als Sieger auserkoren.
Auch Nachwuchstalente kommen immer wieder in die Schlagzeilen, so etwa der Haifaer Technion-Forscher Hossam Haik, der mit Hilfe von Geruchsensoren Krankheiten im Frühstadium erkennen und damit die Medizin revolutionieren will. Von armeeeigenen Wissenschaftlern, die anonym bleiben müssen, aber nicht weniger talentiert als ihre zivilen Kollegen sind, ganz zu schweigen. Kein Zweifel: Wenn Israels Politiker immer wieder sagen, das menschliche Gehirn sei der wichtigste Rohstoff des Landes, so haben sie zweifelsohne recht.
Fragt sich nur: Wie lange? Die Früchte, die das Land heute erntet, warnen Kritiker, sind nämlich der Saat früherer Jahrzehnte zu verdanken, in denen Israels Bildungswesen zu den besten der Welt gehörte. Heute dagegen drohe die einstmals blühende Landschaft zu veröden. Seit den 70er-Jahren, klagt Herve Bercovier, Biologieprofessor und der für Forschung und Entwicklung zuständige Vizepräsident der Hebräischen Universität in Jerusalem, wurden die Hochschulen von der Haushaltspolitik der Regierung sträflich vernachlässigt.
Da zieht es viele junge Talente ins Ausland, vor allem in die USA. An einer guten Universität jenseits des Großen Teiches lässt sich oft genauso viel in Dollar verdienen, wie eine israelische Alma Mater in Schekel anbietet. Es ist aber nicht nur das Geld, das die israelischen Wissenschaftler ins Exil treibt. Vielmehr finden sie im eigenen Land einfach nicht genug Jobs. Die Zahl der akademischern Planstellen, warnt Bercovier, stagniert seit drei Jahrzehnten – obwohl sich die Bevölkerung verdoppelt habe. So ist eine absurde Lage entstanden. »Wer es an einer israelischen Hochschule zu etwas bringen will, muss oft seinen Doktor in Amerika machen«, erklärt der Jerusalemer Politologe Gideon Rahat. »Wenn er aber zurückkehren will, ist keine Stelle frei.« So bleiben viele in den USA – meistens für den Rest ihres Lebens. Einer Schätzung zufolge sind heute viereinhalbtausend israelische Hochschulmitarbeiter in den USA tätig: nicht weniger als in Israel selbst. Laut einer im Auftrag der Knesset erstellten Umfrage sind die besseren Arbeitsmöglichkeiten für acht von zehn Exilanten der Grund für ihren Auslandsaufenthalt. Andere Motive wie familiäre Verbin- dungen oder Angst vor Terror und Krieg spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Wissenschaftler mahnen eine bildungspolitische Wende an. »Politik und Gesellschaft müssen ihr Verhältnis zur akademischen Welt ändern«, glaubt Politologe Rahat. »Die israelischen Professoren und Dozenten leisten hervorragende Arbeit mit minimalen Mitteln. Wir übernehmen nicht nur Forschung und Lehre, sondern auch Verwaltungsaufgaben. Und ich sage nicht, dass das nicht machbar ist. An den uns zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln gemessen, gehören wir zu den effizientesten Wissenschaftlern der Welt.«
Was aber, wenn die Wende zum Besseren ausbleibt? »Ohne angemessene finanzielle Ausstattung«, fürchtet der aus Frankreich immigrierte Bercovier, »haben israe- lische Hochschulen in 20 Jahren kein Weltniveau mehr. Vielleicht wandern meine Enkelkinder dann nach Frankreich aus.« Vor zwei Monaten behauptete Nobelpreisträger Ciechanover, Ähnlichkeiten zwischen dem israelischen »brain drain« von heute und der Flucht jüdischer Wissenschaftler aus Nazi-Deutschland zu erkennen. Später stellte er klar, er habe Israel in keiner Weise mit dem »Dritten Reich« vergleichen wollen – doch ist der unangebrachte Ausbruch ein Indiz dafür, mit welcher Verzweiflung der prominente Forscher die Lage seines Landes sieht.
Des einen Leid ist des andern Freud. Nach einem Bericht der Tageszeitung Yedioth Ahronot entsenden amerikanische Universitäten verstärkt »Kopfjäger« nach Israel, um junge Talente gezielt abzuwerben. Kluge Israelis sind aber auch anderswo gern gesehen. So führt die Hochschulmisere immer mehr zu irreversiblen Schäden in dem Land mit den großen Ideen.