Zehn Gebote

Innig verbunden

von Rabbiner Yizhak Ahren

Vergleicht man die Zehn Gebote im 2. Buch Moses mit der Fassung des Dekalogs im Wochenabschnitt Wa’etchanan, so fallen mehrere Unterschiede auf. »Du sollst nicht morden, und du sollst nicht ehebrechen, und du sollst nicht stehlen, und du sollst nicht als nichtiger Zeuge wider deinen Nächsten aussagen« (5. Buch Moses 5,17). Im 2. Buch Moses 20,13 stehen diese vier Verbote ohne ein verbindendes »und«.
In seinem Kommentar zum 2. Buch Moses hat Benno Jacob die Zehn Gebote einzeln diskutiert bis auf das sechste, siebte und achte (Mord, Ehebruch und Diebstahl). Die bespricht er zusammen: »Jedem Menschen sollen die drei grundlegenden Garantien gegeben werden, die ihn innerhalb jeder Gesellschaft schützen. Für die Richtigkeit der hebräischen Reihenfolge bürgen innere Gründe. Von zu schützenden Gütern muss obenan das Leben stehen. Ist es die erste Sorge jedes Menschen, sein Leben zu erhalten, so ist dies auch der dringendste Schutz, den ich von der Gesellschaft und dem Gesetz verlange, so dass ich mir dafür auch die Respektierung fremden Lebens auferlegen lasse.« Das Gebot »Du sollst nicht morden!« stehe mit dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen in Wechselbeziehung, so Jacobs. »Zwar sind häufiger und heftiger die Antriebe zu Ehebruch und Diebstahl, aber größer ist die für den Mord aufgewandte Energie des Bösen, umso stärker daher der Abscheu des Gesetzgebers. Jedoch für den Dekalog hatten nicht die sozialen Gründe zu entscheiden. Man darf nicht vergessen, dass fünf Gebote religiöser Natur vorangegangen sind. Dieser Gesichtspunkt beherrscht auch die sozialen Normen«, schreibt Jacobs, »der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Ihn und nur ihn hat Gott in seinem Ebenbilde geschaffen, der Mensch ist ein Heiligtum, Mord – auch Selbstmord – ein Sakrileg. Aus jedem Menschen blickt uns etwas Göttliches entgegen.«
Für die Tatsache, dass die Verbote von Mord, Ehebruch, Diebstahl und lügnerischem Zeugnis im 2. Buch Moses nebeneinander stehen und in der zweiten Version des Dekalogs miteinander verbunden sind, hat man verschiedene Interpretationen vorgeschlagen. In der Mechilta des Rabbi Simeon bar Jochai zum 2. Buch Moses 20,14 beispielsweise finden wir folgende Erklärung: »,Du sollst nicht begehren.‹ Kann es vielleicht sein, dass jemand nicht eher schuldig ist, bis er all diese Verbote übertreten hat? Die Schrift lehrt: ›Du sollst nicht morden, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht als falscher Zeuge eine Erklärung abgeben, du sollst nicht begehren‹. Dies bedeutet, dass jemand (bei Übertretung) an (der Übertretung von) jedem einzelnen Verbot schuldig ist. Wenn das so ist«, fragt Rabbi Simeon bar Jochai, »warum steht dann (in 5. Buch Moses 5) geschrieben: ›Du sollst nicht morden, und du sollst nicht ehebrechen, und du sollst nicht stehlen, und du sollst nicht als falscher Zeuge ... und du sollst nicht begehren‹? Dies lehrt, dass sie alle untereinander verbunden sind. Wenn ein Mensch eines davon übertritt, wird er sie schließlich alle miteinander übertreten.« In der Tat wissen wir aus unzähligen Fällen, über die in den Zeitungen ausführlich berichtet wurde, dass das Begehren der Frau oder des Besitzes des Nächsten leider oft der Anlass zu Mord, Diebstahl und falschem Zeugnis waren.
Abravanel sieht in dem Wort »und« nicht nur eine Verbindung zwischen den Mizwot des Dekalogs. Er erklärt, dass es auch einen inneren Zusammenhang zwischen den zwei Tafeln gibt. Man sollte nebeneinander stehende Worte (I und VI, II und VII, III und VIII, IV und IX, V und X) nicht isoliert betrachten. Angeführt seien hier nur Abravanels Deutung des Paares, das auf den Tafeln oben steht: Ein Mensch würde nie einen Mord begehen, wenn er nicht zuvor das erste Wort (»Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Lande Mizrajim, aus dem Sklavenhause, hinausgeführt«) geleugnet hätte. Diesen Zusammenhang zwischen Gottesleugnung und Mord hat Abravanel auch in Psalm 94 ausgemacht: »Witwe und Fremdlinge erschlagen sie, und Waisen morden sie. Und sprechen: Gott sieht nicht, und nichts merkt Jakobs Gott« (Verse 6 und 7).
Mord ist ein Sakrileg. Maimonides zählt Mörder zu denjenigen Sündern, die keinen Anteil an der Olam Haba, der zukünftigen Welt, haben. Allerdings bleibt auch einem Mörder die Möglichkeit der Umkehr offen: Hat er seine Untat bereut und Teschuwa getan, so gehört er zu denen, die der zukünftigen Welt teilhaftig werden. In der Praxis gehört zur Teschuwa eines Mörders eine ungewöhnliche Prozedur, die von Maimonides kodifiziert wurde: »Hat man sich gegen jemanden versündigt, und der Betreffende ist gestorben, ehe man ihn um Verzeihung gebeten hatte, so bringe man zehn Männer an das Grab des Verstorbenen und sage in ihrer Gegenwart: ›Ich habe mich gegen Gott, den Gott Israels, versündigt und gegen diesen Toten, indem ich so und so gegen ihn gehandelt habe‹.«

Wa’etchanan: 5. Buch Moses 3,23 bis 7,11

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