von Vladimir Vertlib
Der diesjährige 27. Januar ist eine Premiere und ein Jubiläum: Zum ersten Mal sind die Mitglieder der UNO aufgerufen, an diesem Tag an den Judenmord zu erinnern. Zum zehnten Mal wird in Deutschland der »Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus« begangen.
Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Man darf jedoch nicht vergessen, daß die NS-Verfolgungen damit keineswegs zu Ende waren und daß ein Großteil der von den Nazis Ermordeten nicht in Auschwitz, sondern an anderen Stätten des Verbrechens ums Leben kam. Doch im Laufe der Jahrzehnte ist Auschwitz zu einem Symbol für die Vernichtungspolitik der Nazis geworden. Das Datum für den Gedenktag ist also gut gewählt. Was hingegen stört, ist die saloppe Umschreibung »Holocaust-Gedenktag«, die sich eingebürgert hat. Zu den Opfern des Nationalsozialismus zählten bekanntlich nicht nur Juden, sondern auch andere: Roma und Sinti, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte, »Asoziale«, die Zivilbevölkerungen aller eroberten oder angegriffenen Länder, Regimegeg- ner und all jene, die durch Zufall, Denunziation oder reine Willkür Opfer des Repressions- und Vernichtungsapparates geworden waren. Die Reduktion der NS-Verbre- chen auf die Schoa ist keine gedankenlose, sondern eine bezeichnende und symptomatische Verkürzung.
Genau ein Jahr vor der Befreiung von Auschwitz endete die Blockade von Leningrad. Meine Geburtsstadt wurde von September 1941 bis Januar 1944 von der deutschen Wehrmacht belagert. Mehr als eine Million Zivilisten verhungerten, erfroren oder wurden Opfer des regelmäßigen Artilleriebeschusses. Eine Erstürmung der Stadt war nicht vorgesehen. Die Menschen in der belagerten Stadt sollten verhungern. Damit würde sich das »logistische Problem mit der Zivilbevölkerung« von selbst lösen. Erst nach mehreren Offensiven der Roten Armee konnte dieser Genozid beendet werden. Meine Eltern waren damals noch Kinder. Wie durch ein Wunder überlebten sie die Belagerung, die Bombardierungen und den Hunger. Hätte die Stadt kapituliert, wären meine Eltern von den Nazis als Juden ermordet worden. Der 27. Januar war für sie und ist auch für mich ein in mehrfacher Hinsicht gedenkwürdiger Tag.
Eine weitere, in den vergangenen Jahren immer öfter diskutierte Frage ist, in welcher Form man der Opfer eines verbrecherischen Regimes gedenken soll, das vor mehr als sechzig Jahren zerschlagen worden ist. Was damals geschehen sei, werde nun »historisch«, liest oder hört man in den Medien, so als impliziere dies eine zeitliche Distanz, die den Nationalsozialismus und Napoleons Eroberungskriege auf eine Stufe der historischen Wahrnehmung stelle. Es scheint mir, als beginne man heute schon darüber nachzudenken, was erst 2030 oder später relevant sein wird. Jene, die Anfang der vierziger Jahre Kinder waren, werden noch in zehn oder zwanzig Jahren Zeugenschaft ab- legen können. »Historisch« kann die NS-Epoche auch für die erste und zweite Generation nach dem Krieg noch nicht sein. Ich bin 1966 geboren, doch die Erzählungen meiner Eltern über den Krieg sind zu einem Teil meiner eigenen Identität geworden. Sie sind in einer Weise präsent wie manches, das ich selbst erlebt habe.
Letztlich gibt es keine Antwort auf die Frage nach der »richtigen« Form, einen Gedenktag wie den 27. Januar würdig zu begehen. Weder Sonntagsreden noch Schweigeminuten erscheinen angemessen, weil sie der Dimension des Verbrechens nicht gerecht werden können. Und doch wäre es falsch, diese Rituale wegzulassen, deren Symbolik jedermann zugänglich ist.
Wenn aus Erinnerung wirklich etwas Bleibendes für die Gegenwart entstehen soll, braucht man mehr als ein paar Stunden an einem Wintertag. Als ich in den siebziger und achtziger Jahren in Wien ins Gymnasium ging, wurde im Geschichts- oder Deutschunterricht über die jüngere Vergangenheit so abstrakt berichtet, daß sich niemand betroffen fühlen konnte. Die NS-Verbrechen geschahen in Mauthausen, Ausch- witz, Treblinka oder irgendwo in der russischen Provinz. Mit dem Bezirk, in dem man wohnte, oder mit den Nachbarn von nebenan hatte das nichts zu tun. Dabei hatte sich einst in unserem Schulgebäude ein Gestapo-Gefängnis befunden. In unseren Klassenzimmern waren Menschen, vor allem Juden, eingesperrt, verhört, geschlagen wor- den. Im Unterricht erfuhren wir davon nichts. Erst 1983 wurde eine Gedenktafel am Eingang zum Gebäude angebracht. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, gibt es in der Schule immerhin ein kleines Museum. Schülerinnen und Schüler nehmen an Projekten teil, bei denen es um die Geschichte ihrer Schule oder ihres Viertels geht. Sie führen Gespräche mit Zeitzeugen, zu denen auch KZ-Überlebende gehören. So entsteht die Möglichkeit, Geschichte unmittelbar und als prägenden Bestandteil der eigenen Lebenswelt zu verstehen. Dies ist nach Jahrzehnten des Schweigens und Verdrängens immerhin ein großer Schritt in die richtige Richtung. Der nun »international« gewordene Schoa-Gedenktag, so nennt ihn die UNO, ist ein weiterer Schritt auf diesem Weg.
Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad geboren, lebt als Schriftsteller in Salzburg. Am 4. Februar erscheint im Deuticke Verlag sein neues Buch »Mein erster Mörder«.