von Wolf Scheller
Die erste jüdische Studentenverbindung im deutschsprachigen Raum entstand um 1882/83 mit der »Kadimah« in Wien, die bewusst zionistisch war und jede Form der Assimilation ablehnte. In Deutschland gründeten 1886 jüdische Studenten in Breslau eine Verbindung, die ihrerseits den strengen Zionismus ablehnte, vielmehr alles daran setzte, um die eigenen spezifischen Interessen in einer weitgehend antisemitischen Umgebung zu behaupten. Die Mitglieder der »Viadrina Breslau« und ihr nahestehender deutsch-jüdischer Studentenverbindungen betrachteten sich als deutsche Bürger jüdischen Glaubens, als integralen Bestandteil der Gesellschaft. Folgerichtig orientierte sich ihr Brauchtum an den deutschen studentischen Traditionen.
Die Historikerin Miriam Rürup, geboren 1973, untersucht die Geschichte jüdischer Studentenverbindungen in Deutschland von der Wilhelminischen Ära bis zu ihrem erzwungenen Ende im Jahr 1937. Bis dahin konnten die Altherrenschaften unter Aufsicht der Gestapo noch weiterexistieren. Damals spielte keine Rolle mehr, dass sich jüdische Verbindungsstudenten in ihrem deutsch-vaterländischen Selbstverständnis von ihren nichtjüdischen Kommilitonen nicht übertreffen ließen. Eine gewisse Ernüchterung hatte bereits in der Weimarer Republik eingesetzt, als es an den Hochschulen immer häufiger zu antisemitischen Übergriffen kam und einzelne Verbindungen dazu übergingen, ihre Mitglieder im Boxen und Judo auszubilden, damit sie sich gegen ihre braunen Kommilitonen wehren konnten.
Rürup untersucht, gestützt auf Recherchen in Archiven und Bibliotheken zwischen New York, Berlin und Jerusalem, die Motive für den Aufbau des jüdischen Verbindungswesens, den sie als »Platzgewinn im akademischen Feld« beschreibt. Ihre
These lautet, dass die Elite jüdischer junger Männer ihr Heil in der Zugehörigkeit zu der »Ehrgemeinschaft« der »arischen« und damit satisfaktionsfähigen Gesellschaft suchten. In den Jahren des von wirtschaftlichem Aufschwung gezeichneten Wilhelminismus gab es zwar nicht mehr den plumpen Antisemitismus früherer Epochen, aber nach wie vor versagten fast alle studentischen Korporationen Juden den Beitritt. Die Breslauer Studenten der schlagenden und farbentragenden »Viadrina« wollten ihre gesellschaftliche Position verbessern. Auf antisemitische Äußerungen reagierten sie jetzt mit einer Duellforderung, was dem damaligen allgemeinen Komment entsprach. Gleichzeitig gerieten sie und ihre Nachahmer an anderen Universitäten in Konflikt mit den zionistisch eingestellten Studenten. Aus deren Perspektive war es unmöglich, Deutscher und Jude in einem zu sein.
Schon in dieser Frühzeit des jüdischen Korporationswesens mussten die jüdischen Studenten erkennen, dass ihr Beharren auf Gleichberechtigung gegen den Antisemitismus nichts auszurichten vermochte. Zwar wollten, wie Rürup schreibt, die meisten das Stereotyp vom »weibischen, feigen« Juden durch Inszenierung von Männlichkeit und schneidiges Auftreten abschütteln. Doch dies nutzte wenig. Nach 1871 schlossen die schlagenden Korporationen zunehmend jüdische Aspiranten aus.
Nach der Machtergreifung der Nazis fielen die letzten Hemmungen. Deutschlands akademische Jugend, anfällig wie eh und je für Schwärmertum, war schon vor 1933 mit fliegenden Fahnen in die Arme der künftigen braunen Machthaber gelaufen. Dennoch blieben viele jüdische Verbindungsstudenten auch noch in den 30er-Jahren auf den deutsch-nationalen Wertekanon der Korporationen fixiert. Miriam Rürups organisationsgeschichtliche Studie beleuchtet umfassend diesen tragischen Irrweg.
miriam rürup: ehrensache. jüdische studentenverbindungen an deutschen universitäten 1886–1937
Wallstein, Göttingen 2008, 502 S., 40,- €