Der Weg zum neuen Siddur »T’fillot lekol haSchanah – Jüdisches Gebetbuch«, der von den liberalen Rabbinern Jonah Sievers und Andreas Nachama herausgegeben wurde und nun im ersten Band vorliegt, begann nicht erst mit einer Ankündigung im Jahre 2006. Vielmehr nahm er seinen Anfang eigentlich schon im Jahre 1926 mit dem liberalen »Einheitsgebetbuch für die jüdischen Gemeinden« im preußischen Verband liberaler Gemeinden und dem Gebetbuch für die Neue Synagoge Berlin aus dem Jahre 1881. Beide gingen aus der deutschen liberalen Strömung hervor und repräsentierten ihr Selbstverständnis, das sich unter anderem durch umsichtigen, wissenschaftlichen Umgang mit den traditionellen Texten äußerte.
Tradition Liberale Gruppen oder Ge-
meinden, wie in der Berliner Synagoge Pes-
talozzistraße, orientierten sich an dieser deutschen Vorkriegstradition. Sie passten sich den modernen Gegebenheiten an, ohne jedoch auf aktuelle Siddurim zurück-greifen zu können. Nun wird diese Lücke geschlossen und das Gebetsbuch einem größeren Kreis zugänglich gemacht.
Das »Jüdische Gebetbuch« ist jedoch keine Nachahmung dieser alten Siddurim, oder etwa nur ein Neudruck. Es wurde vollständig neu gestaltet, die hebräischen Tex-
te neu gesetzt und mit einigen Neuerungen ergänzt. Alle Texte wurden transliteriert, um Beter in das öffentliche Gebet einzubinden, die »noch nicht« hebräisch lesen können. Die Transliteration steht zeilenweise rechts neben dem hebräischen Originaltext und die Übersetzung als Block un-
ter dem hebräischen Gebetstext. Hinzu kommen kleine Anweisungen für die Beter und einige kleine Hinweise zu den Quellen, die sich stets am äußeren Rand der Buchseite finden lassen. Dadurch unterbrechen sie den Textfluss nicht.
Im »Mah Tovu« hat man, zwar als optionaler Zusatz erkennbar, neben »wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnstätten, Jisrael« auch die Mütter aufgenommen: »Wie gut sind deine Zelte, Leah, deine Wohnstätten, Rachel«. Die übrigen Texte wurden mit egalitären Zusätzen versehen, wie sie heute in allen nichtorthodoxen Strömungen üblich sind. Die einleitenden Brachot der Amida enthalten also auch die Stammmütter. Beim Tischgebet war man dagegen etwas vorsichtiger und erwähnt sie nicht. Dafür enthält es eine Segensbitte für den Staat Israel. Es fällt ins Auge, dass sich in den Birkot Haschachar, den morgendlichen Segenssprüchen, eine Formulierung der konservativen Bewegung durchgesetzt hat. In den Segenssprüchen sagt man nun »scheasani betzalmo – du hast mich nach deinem Bild geschaffen« statt »scheasani kirzono – der mich nach seinem Willen gemacht hat«. Dies ersetzt das »der mich nicht als Frau erschaffen hat«.
Gebete Dieser erste Band enthält die Gebete für den Schabbat und Werktage, also Schacharit, Mincha, Maariw, Kabbalat Schabbat, Mussaf für Rosch Chodesch, Hallel, Tischgebet, verschiedene Brachot, das Nachtgebet und Gebete für Chanukka. Mussaf ist in einer konservativ-liberalen Variante vorhanden. Zudem gibt es eine alternative Variante des Secher l’Mussaf, wie man sie aus dem israelischen libaren »Awodah sche’balew« kennt. Vergeblich sucht man dagegen zusätzliche Gebete zur Toralesung, etwa für die Gemeinde oder das Land.
Traditionsorientierte liberale Gruppen und Gemeinden können nun auf einen einheitlichen Siddur zurückgreifen, ohne alte Siddurim neu auflegen zu müssen. Er ist in Sprache und Zusammenstellung der liberalen Vorkriegstradition verpflichtet und setzt damit etwas fort, was in Deutschland seinen Ursprung hatte und stülpt nicht eine Tradition darüber, die einen anderen Hintergrund hat. Chajim Guski