Vor wenigen Tagen fand in Berlin der lang
angekündigte »Integrationsgipfel« statt. Er
kam zustande, als öffentlich erkennbar
wurde, daß die Zuwanderung nicht länger
eine beiläufige Angelegenheit bleiben kann,
die sich hinter dem Rücken der gesellschaftlichen
Akteure abspielt. Das heißt konkret:
Es gibt Parallelgesellschaften genannte Organisationsformen
in den Migrations-Communities
mit einem kulturellen und moralischen
Selbstverständnis sowie Kommunikationsmustern
und Konfliktlösungsstrategien,
die in einer westlichen Demokratie anstößig
sind. Überrascht blicken wir in die
brutale Fratze vormoderner sozialer Abhängigkeiten
und gewaltförmiger Beziehungsmuster.
Die öffentliche Reaktion auf dramatische
Begebenheiten wie zum Beispiel
»Ehrenmorde« wirkt wie das konsternierte
Kopfschütteln von Eltern, deren Kind plötzlich
aus der Spur geraten ist und dessen
Verhalten weder von ihnen noch von ihrem
Umfeld nachvollzogen werden kann. Übrig
bleibt neben dem ungläubigen Entsetzen
die Frage, was denn der Zögling mit seinen
erziehungsberechtigten und zur Erziehung
verpflichteten Eltern gemein haben könnte.
Zugegeben, das ist nur ein begrenzt tauglicher
Vergleich. Doch er kann daran erinnern,
daß Deutschland wider Willen zu einem
Einwanderungsland geworden ist und
somit die notwendigen strukturellen Erfordernisse,
die eine Zuwanderung nach sich
zieht, schlechterdings über Jahrzehnte weder
bedacht noch umgesetzt hat. Auch daran
sei erinnert: Menschen verlassen ihre
Heimat in der Regel nur äußerst ungern.
Sie tun dies,weil sie verfolgt werden, sich in
wirtschaftlicher Not befinden und keine
Perspektive zum Aufbau einer Existenz vor
Augen haben, oder Kriege und Naturkatastrophen
haben sie zur Flucht gezwungen.
Die von uns an die Zuwanderer herangetragene
Erwartung, sich flugs den neuen
Realitäten anzupassen, überfordert die meisten.
Nicht nur, weil viele von ihnen aus Regionen
stammen, deren soziale und ökonomische
wie auch kulturelle und religiöse
Entwicklung deutlich von den bundesdeutschen
Standards abweicht. Selbst Migranten
aus modernen Gesellschaften tun sich
schwer, ihr vertrautes, wenn auch als ambivalent
oder teilweise feindselig empfundenes
Milieu zu verlassen und in eine unbekannte
Welt überzusiedeln. Wir unterschätzen
den immensen sozialen, psychischen
und kulturellen Aufwand, der mit der Aufnahme
in eine stabile, funktionierende, auf
klaren Prinzipien beruhende und zugleich
dynamische Gesellschaft einhergeht.
Wenn die aufnehmende Gesellschaft
mehr oder minder als integrationsberechtigte
und integrationsverpflichtete Instanz
ausfällt, kann so das gesamte Integrationsprojekt
scheitern. Konflikte, Abgrenzungswünsche,
Haß und Mißtrauen bei den Zuwanderern
sind ebenso vorhersehbar wie
Formen der Stigmatisierung oder Diskriminierung
bei Mitgliedern der aufnehmenden
Gesellschaft. Wechselseitige Enttäuschung
macht sich breit. Die eine Seite
macht den Zuwanderern die fehlende
Dankbarkeit für die Aufnahme in Deutschland
zum Vorwurf. Die andere Seite beklagt,
daß die Aufnahmegesellschaft die
eingebrachten Leistungen zum Wohle der
deutschen Gesellschaft nicht anerkennt.
Die mangelnde und mangelhafte Kommunikation
tut das ihrige, um die strukturelle
Entfremdung voranzutreiben. An die Stelle
von Austausch und Interkulturalität treten
Ressentiments und Zweifel. Die Neugier
aufeinander schwindet in dem Maße,
in dem sich die vermeintliche Gewissheit
über das Wesen und die Kultur des jeweils
anderen verfestigt.
Klingt irgendwie bekannt, nicht wahr?
Nach mehr als fünfzehn Jahren Einwanderung
von Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion müssen auch wir uns eingestehen,
daß wir teils blauäugig, teils ignorant
den Aufnahmeprozeß in die jüdischen
Gemeinden organisiert und inhaltlich begleitet
haben. Wir sind nicht deswegen
schon Integrationsexperten, weil wir oder
unsere Familien mehrheitlich nach dem
Holocaust in die Bundesrepublik eingewandert
sind und heute kaum noch vorstellbare
Integrationsleistungen auf uns nehmen
mußten. Integration ist ein verdammt hartes
Geschäft für alle Beteiligten. Die Spielregeln
der aufnehmenden Gesellschaft, Gemeinde
oder Kommune müssen erlernt
werden. Wiederum gilt es aber auch, die jeweilige
komplexe kulturelle Identität der
Zuwanderer, ihren Eigensinn und Erfahrungshorizont
zu respektieren. Anderenfalls
droht der Einwanderungsgesellschaft
eine inter-ethnische Verrohung und Verwahrlosung.
Deshalb sind Integrationsagenturen
und -zentren notwendig, die (wie
in Israel seit Jahrzehnten praktiziert) das
Projekt der Zuwanderung und der erfolgreichen
Eingliederung kulturell, mental, aber
auch praktisch unterstützen und fördern.
Den Integrationsgipfel möchten schließlich
die meisten der Migrantinnen und Migranten
erklimmen.
Für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion tut sich nun eine neue
Chance auf. Das Punktesystem (vgl. S. 2) für
die Integration ermöglicht es nicht nur ihnen,
sondern auch der Aufnahmegesellschaft,
sich auf die demographischen und
sozialen Veränderungen vorzubereiten. Das
gilt vor allem für den Arbeitsmarkt und den
Bildungsbereich. Und: Die Gemeinden können
langfristig planen, sich so auf kulturelle
und religiöse Herausforderungen und Konflikte
besser vorbereiten.
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