Ron Leshem

In einem fremden Land

von Christian Buckard

In den ersten Tagen der zweiten Intifada, im Herbst 2000, wurde der Reporter Ron Leshem von der Zeitung Yedioth Acharonot in den Gasastreifen geschickt. Nur mit einem Notizbuch bewaffnet fand der 24-Jährige sich plötzlich im Krieg wieder. Um ihn herum krachten Schüsse, fielen Bomben, der ohrenbetäubende Lärm der Helikopter erfüllte die Luft. Leshem hatte keine Ahnung, wo und wie er hier mit seiner journalistischen Arbeit beginnen sollte. Kein Mensch kümmerte sich um ihn.
Plötzlich hörte er einen jungen Offizier zu jemandem sagen: »Verdammt, Bruder, das hier ist fucking Saigon!« Leshem sprang auf und bat den Mann, ihm ein Interview zu geben. »Ich gebe keine Interviews«, fuhr der ihn an. »Ich hasse die Presse!« Doch der Reporter gab nicht auf, bis der Offizier schließlich widerstrebend einwilligte, mit ihm zu sprechen. »Wir haben nächtelang zusammengesessen und geredet«, erzählt Ron Leshem bei einem Besuch in Berlin. »Schlafen konnten wir sowieso nicht, wegen der Helikopter und Raketen.« Und immer, wenn Leshem den Soldaten über die Lage im Gasastreifen befragen wollte, fluchte dieser: »Mann, du hast ja keine Ahnung, was wir im Libanon durchgemacht haben.«
Leshem musste sich eingestehen, dass er tatsächlich nichts über die Kämpfe im Libanon wusste, aus dem sich Israel im Mai 2000 zurückgezogen hatte. Das nördliche Nachbarland war für ihn wie ein fremder Planet. Ebenso wie ihm der Offizier fremd war. »Über sechzig Prozent der Ab-solventen der Offiziersakademie kommen aus dem religiösen Teil der Bevölkerung«, erzählt er. »Es sind in erster Linie die Religiösen, die armen Leute, die orientalischen Juden, die Misrachim, die zur Armee gehen. Die jungen Männer aus der Elite, die besorgen sich einen Job fern des Krieges in Tel Aviv. Die Armee ist heute kein Schmelztiegel mehr. Wir sind voneinander getrennt lebende zwölf Stämme.«
Diese ihm fremde Welt beschreibt Le-shem in einem Roman, der diese Woche in Deutschland erscheint. Wenn es ein Paradies gibt erzählt in der Sprache der ihm so fremden Soldaten über den unbekannten Planeten Libanon, wo 18-Jährige gekämpft und gefallen waren, während der Autor in Tel Aviv gesessen hatte. »Damals, im ›Feld‹, erkannte ich plötzlich, dass ich rein gar nichts vom richtigen Leben weiß«, sagt er. »Und gleichzeitig wurde mir schlagartig klar, dass ich es nie mehr erfahren würde. Wenn du 25 bist und keine Kampferfahrung hast, dann kannst du nicht ankommen und sagen, ›Bitte nehmt mich mit aufs Schlachtfeld, ich will die Liebe der Soldaten zueinander spüren‹.«
Also näherte sich Leshem seinem Thema, wie er es als Journalist gelernt hatte. Er traf den Offizier, dem er in Gasa begegnet war, in Tel Aviv wieder. Er hörte ihm zu, stellte Fragen, bekam Kontakt mit weiteren Libanonveteranen. Er sah sich stundenlang Videoaufnahmen an, die von den Soldaten im Libanon selbst gefilmt worden waren. Vor allem lernte er eine neue Sprache. Leshem wusste, dass er die Geschichte der Soldaten nur würde erzählen können, wenn er in ihrer Sprache schrieb. »Stoßen, zum Beispiel. Stoßen heißt fest schlafen in unserer Sprache. Die vollständige Formulierung lautet ins Kopfkissen stoßen. Ein Flugsi ist ein unverbindliches Rumknutschen mit einem Mädchen. Batzen meint Küsschengeben. Batzen kann es auch zwischen zwei Jungs geben, einen Flugsi nicht. Eule ist einer, der den ganzen Tag mit einem Ast in der Hand rumläuft, Hummus ist ein Soldat mit beschränkter Auffassungsgabe, ein Araber noch dämlicher. Ein Hinterlader ist ein Homo. Auch Momo meint Homo. Samenvergeuder wird ein Soldat genannt, der nichts tut. Und dann wäre da noch die allerschlimmste, allerübelste Verwünschung: Gebe Gott, dass sie dir den Zettel aus der Klagemauer stehlen.«
In Leshems Roman, der auch die Vorlage für Joseph Cedars preisgekrönten Film Beaufort ist, erzählt der 22-jährige Kommandeur Eres in dieser ebenso farbigen wie direkten Sprache vom Leben und Sterben 18-jähriger Soldaten in der Festung Beaufort, während des letzten Jahres der israelischen Präsenz im Libanon. Eres glaubt an die Notwendigkeit seiner Mission, aber muss erleben, wie immer mehr seiner Männer von Terroristen getötet werden, während die politische Entscheidung zum Abzug längst gefallen ist. Dabei ist Wenn es ein Paradies gibt kein Buch über oder gegen den Krieg: Es ist ein Roman über junge Soldaten, die mitten im Feindesland eine Art »Kinder-Staat« bewohnen, von dessen Existenz zuhause kaum jemand weiß. Ein Staat, der unter ständigem Beschuss der Hisbollah liegt, in dem es weder Mädchen, Cafés noch fließendes Wasser gibt und an den jene, die ihn überlebt haben, später mit einer eigenartigen Hassliebe zurückdenken werden.
Die ersten Verlage, denen Leshem sein Manuskript anbot, winkten ab. Als er dann endlich einen Verlag gefunden hatte, befiel ihn plötzlich Panik. »Mir wurde plötzlich klar, dass meine Mutter das Buch lesen würde, das so voll mit sexuellen Vulgaritäten ist. Also ging ich zu meinem Verleger und flehte ihn an, die entsprechenden Stellen etwas zu glätten. Er weigerte sich. Alles müsse genauso bleiben, wie es dort stehe.«
Die Sorgen Leshems um den inneren Frieden der Mutter waren unbegründet. Die ältere Generation der israelischen Leser hatte keine Probleme mit der wilden, politisch völlig unkorrekten Sprache der Soldaten. Es waren eher Literaturwissenschaftler um die Dreißig, denen das Buch sauer aufstieß. Als der Roman dann aber 2006 den Saphir-Preis erhielt, die höchste literarische Auszeichnung des Landes, schwiegen die akademischen Kritiker. Wenn es ein Paradies gibt avancierte zum Kultbuch, die Verkaufszahlen kletterten auf 150.000 (was einer deutschen Auflage von anderhalb Millionen entspräche), der Spielfilm Beaufort nach Leshems Drehbuch erhielt auf der Berlinale 2007 den Silbernen Bären. Ron Leshem hat seinen Roman für die »neuen Israelis« geschrieben, die er in Gasa erstmals näher kennengelernt hat, für ihre Familien, Freunde und Freundinnen. Wenn die »zwölf Stämme« einander durch das Buch etwas besser kennenlernen, hat er erreicht, was er wollte.

ron leshem; wenn es ein paradies gibt
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Rowohlt, Reinbek 2008, 320 S., 19,90 €

Kultur

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