Am 9. November 1989 stand ich mit meinen Musikern Hans-Werner Apel und Stefan Maass auf der Bühne in Lauf am Neckar. Wir waren eingeladen, für diesen Tag ein Konzert zu geben und traten mit sefardischen Liedern und Romanzen auf. Wir kamen in den Konzertsaal und wurden als seltene Gäste aus der DDR angekündigt. »Allerdings seit heute nicht mehr selten, denn die Regierung der DDR hat die Grenzen geöffnet«, sagte der Veranstalter. Und mit dieser Nachricht gingen wir auf die Bühne und redeten über Juden im mittelalterlichen Spanien. Mit dem Kopf waren wir alle ganz woanders. Plötzlich tauchten tausend Fragen auf: Wie kommen wir zurück? Geht es meinen Kindern gut? Ich hatte Angst: Vielleicht kannst du nicht mehr nach Hause. Nach dem Konzert sind wir ins Auto gestiegen und wie die Blöden nach Berlin gedüst. Die Beamten am Grenzübergang waren völlig irritiert und haben sich gewundert, weil wir eines der wenigen Autos waren, die in die andere Richtung gefahren sind. Ich war dankbar, dass meine Kinder wohlauf waren. Das war mein 9. November 1989.
wendepunkt Doch alles begann schon viel früher, nämlich am 9. Oktober 1989 – Jom Kippur. Ich, unterwegs zwischen Straße, Kirche und Synagoge. Genau an diesem Tag hatten mich Mitarbeiter der Kirche gebeten zu singen. Ich bin also von der Synagoge nach Hause, habe die Kinder geschnappt, und wir sind alle zusammen in die Kirche. Uns war klar: In dieser Nacht passiert etwas. Und dann wollte ich lieber da sein, wo viele Menschen sind, wenn man nicht weiß, was kommt. Im Oktober 1989 hatten wir angefangen, die Tage der Jüdischen Kultur vorzubereiten. Ich wurde von den Initiatoren der Mahnwache gefragt, ob ich nicht singen wolle. Natürlich bin ich dahin, habe Blumen vorbeigebracht und mich mit den Menschen solidarisch erklärt. Es war Ausgang von Jom Kippur. Ich hatte zu tun, mich durch die Absperrungen durchzuarbeiten. Wir saßen in der Gethsemanekirche und haben Gulag-Lieder gesungen. Mitten in der Nacht ging auf einmal der Ruf durch die Kirche: Sie sind weg, die Staatsmacht ist weg. In Leipzig war der Ring geschlossen und die Staatsmacht, die bereitstand, die Demons-
tranten zusammenzuprügeln und auch zusammenzuschießen – erst jetzt habe ich erfahren, dass der Hof der benachbarten Schule voller Militär stand – sie hatte keine Chance. Wir waren in der Überzahl. Und wir sind alle auf die Straße und haben ein besonderes Fest gefeiert.
Uns war klar: Das ist ein Wendepunkt. Am 25. Oktober gab es in der Erlöserkirche ein Konzert, damit wir uns mit denen, die während der Demo am 9. Oktober zu Unrecht inhaftiert worden waren, solidarisieren. Es gab ja keine offizielle Rehabilitierung. In den kommenden Tagen folgte eine Meldung nach der anderen. Hier trat jemand zurück, dort versuchte die DDR-Regierung, die Situation noch zu retten. Und dann steuerte alles auf die große Demonstration am 4. November auf dem Ale-
xanderplatz hin. Es war ein Samstag, die Kinder mussten damals noch in die Schule. Und ich habe mit aller Kraft versucht, sie von der Schule zu befreien, damit sie mit mir zur Demonstration gehen konnten. Die Schule sagte: Können Sie Ihre Kinder nicht krank melden? Das wollte ich nicht, ich wollte sie ganz offiziell mitnehmen. Wir sind dann völlig euphorisch vom Rosa-Luxemburg-Platz losgelaufen. Euphorisch über die kreativen Ideen. Ein Freund aus der Schweiz war bei mir zu Besuch, und wir wurden am U-Bahnhof mit einem Schild empfangen, auf dem stand: »Erich in die Schweiz«.
Freiheit Es war eine großartige Stimmung. Dieses Gefühl, endlich durchatmen zu können. Alle Demonstranten kamen am Alex zusammen. Und plötzlich kam es zu einer Art Pogromstimmung. Ich hörte »Deutschland den Deutschen«. Das hatte die Staatssicherheit angezettelt – keine Frage. Mich ergriff Panik, und ich bin raus aus der Menge. Am Abend saß ich mit meinen Nachbarn zusammen. Wir wollten feiern, aber so richtig fröhliche Stimmung wollte nicht aufkommen. Klar war, jetzt haben wir die Demokratie gewonnen, doch jetzt wird Tacheles über uns hereinbrechen. Ich erinnere mich an einen Spruch eines der Mitglieder des »Runden Tischs«: »Wunderbare Ideen, die sie haben, aber Ihnen wird die Zeit fehlen, sie umzusetzen.« Und so kam es dann auch.
Mut Die Entwicklung nahm ihren Lauf. Aber diese Erfahrungen, dass Menschen sich plötzlich getraut haben. Wie aus grauen Gesichtern plötzlich offene Menschen wurden. Wie sie um die Kirche rumschlichen, sich dann hineintrauten. Wie Menschen ihre eigene Energie entdeckt haben. Das war schon toll. Für die Juden waren die »Deutschland den Deutschen« schreienden, betrunkenen Menschen, die sich in Richtung Bornholmer Straße bewegten, alles andere als komisch. Es war eine ambivalente Erfahrung. Natürlich waren wir froh, dass die Grenze auf war. Das sind wir bis heute. Aber dieses besoffene Gegröle hat Panik ausgelöst. Deswegen war der spätere Abzug der Alliierten aus Deutschland ein schwieriger Moment. Wir hatten das Gefühl: Jetzt sind wir mit den Deutschen wieder alleine. Dass sich unsere Befürchtungen später als unbegründet erwiesen, steht auf einem anderen Blatt. Menschen aus der Nachbarschaft, die Probleme hatten, mit Juden zusammenzuleben, gab es auch: Wir bekamen anonyme Anrufe. Da habe ich gelernt, dass das wirkliche Vertrauen, das wir brauchen, das in unsere Nachbarn ist. Wie Scholem Alejchem sagt: »Ein guter Nachbar ist immer besser als ein ferner Verwandter.« Seit diesen Tagen im Oktober 1989, seitdem ich erlebt habe, wie im kleinsten Kreis Menschen zu ihren Ideen gestanden haben – als noch gar nicht klar war, wie die Geschichte ausgehen würde –, seitdem weiß ich, diesen Menschen kann ich vertrauen. Es ist eine sehr enge Beziehung. Wir diskutieren gemeinsam, drüben, bei Gethsemane im Garten: Das ist ein guter Ort, um zu leben.
Fest Im Januar 1987 hatten wir hier am Prenzlauer Berg die ersten Tage der Jüdischen Kultur. Andreas Nachama erzählte später, nachdem er erfahren hatte, dass wir in Ost-Berlin anfingen, jüdische Kulturtage zu veranstalten, dass in der West-Berliner Gemeinde auch etwas passieren musste. Diese Tage der Jüdischen Kultur gehörten zu den wenigen Projekten, die den Fall der Mauer überlebt haben. Wir haben von 1987 bis 1997 ein jährliches Jiddisch-Festival gehabt, das auch von der UNESCO gefördert wurde. Mit Gästen aus Ost- und Westeuropa. Für viele fast vergessen. Heute hat man repräsentative Festivals. Dass dort die Anfänge liegen und dass es so etwas in der DDR gab, das ist für viele oft unvorstellbar. Überhaupt muss ich das momentan an vielen Orten erklären. Zum Beispiel kürzlich bei der Eröffnung der Alten Synagoge in Erfurt.
Ich habe, anders als viele meiner Kollegen, kein Problem damit, in Kirchen zu singen. Und das aus einem ganz einfachen Grund: In der langsam in sich zusammenfallenden DDR waren die Kirchen Orte, an denen wir gemeinsam gesungen und diskutiert haben.