von Lothar Heinke
Erst einmal Anstehen. Der Hunger nach Kunst ist groß in Berlin, und nun kommen sie auch noch aus ganz Europa eingeflogen wie einst Pablo Picassos Friedenstaube auf Brechts Gardine im »Berliner Ensemble«. Jeder möchte dabei sein und mit- reden bei der 4. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst. Sie hat sich den John-Steinbeck-Titel »Von Mäusen und Menschen« umgehängt. Das zieht. Die August- straße in der Spandauer Vorstadt in Berlin-Mitte ist voller Menschen, von Mäusen keine Spur. Die erwartungsvollen Kunstfreunde haben 14 Orte mit den dort ausgestellten Werken zu erobern. Schon die Straße ist ein Kunstwerk. Ihre vierstöckigen Altbauten waren vor der Wende dem Verfall preisgegeben. Einigen sieht man noch heute die Vernachläßigung an. Hier und da entdecken wir Einschußlöcher vom Gewehrfeuer beim letzten Kampf um die Reichshauptstadt, als die Leute in den Kellern saßen, weinend, betend, voller Angst oder auch Freude, wenn plötzlich der erste Russe im Türrahmen stand und sagte: »Gitler kaput.«
Reich waren sie wohl nicht, die hier lebten. Die um 1700 angelegte Straße zwischen der Oranienburger und der Kleinen Rosenthaler hieß »Armesündergasse«, »Armengasse«, »Hospitalstraße«. Seit 1833 trägt sie den Namen des preußischen Prinzen Friedrich Wilhelm Heinrich August, und weil dieser August ein Allerweltsvorname ist, beließ ihn die DDR auf dem Straßenschild, außerdem: Hier, in der Nummer 24, war Clärchens Ballhaus, und dazu paßte irgendwie der August ganz gut.
Das Haus Auguststraße 11-13, vor dem gerade die Kunstfreunde Einlaß begehren, fällt hier vollkommen aus dem Architektur-Rahmen der Gebäude rechts, links und gegenüber. Es ist modern mit seinen klaren symmetrischen Formen. Man denkt unwillkürlich an Dessau, Weimar, Bauhaus: dunkelrote, fast bräunliche Eisenklinker, wie Riemchen nebeneinander gesetzt und übereinander gestapelt, beherr- schen die Fassade, der die Fensterreihen eine eigene Dynamik verordnen. Baumeister Alexander Beer, der auch für das Jüdische Waisenhaus in Pankow, die Synagoge am Fraenkel-Ufer und andere verantwortlich zeichnete, hatte dies Gebäude Ende der zwanziger Jahre entworfen. Es war eines der letzten Neubauvorhaben der Jüdischen Gemeinde vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Und es gehörte ab 1930 der Jugend, von der man gemeinhin als »die kommende Generation« spricht, aber im Deutschland nach 1933 war alles anders. Der Architekt Beer starb 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt, und die Mädchen, denen er die schöne schlichte moderne und ein wenig weiblich-elegante Schule hingebaut hatte, wurden ab Mitte 1942 in alle Winde vertrieben und verstreut, deportiert. Im besten Falle lebten sie danach in anderen Ländern, aber viele von ihnen konnten nach 1945 nicht mehr zurückkehren in die Auguststraße und an die Pforte klopfen, um die Erinnerungen an die Schulzeit, an die Lehrer, die Klassenräume und ihre Streiche in den breiten Gängen und auf dem weitläufigen Schulhof aufzufrischen.
Zwischen sechs und 13 Jahre alt sind die Schülerinnen der Jüdischen Mädchenvolksschule, als sie 1930 in das Gebäude einziehen, arme Mädchen und Waisen aus dem benachbarten Kinderheim Ahawah, was soviel wie »Liebe« bedeutet. Was wissen zehnjährige Kinder von dem, was um sie herum in der Welt passiert? Nach 1933, spätestens nach dem Novemberpogrom von 1938, gehen immer weniger Mädchen durch diese schweren Türen, die am 30. Juni 1942 für immer für sie verschlossen werden sollten. An diesem Tage ordnet das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und das Reichssicherheitshauptamt an, alle jüdischen Schulen zu schließen. Die »Endlösung der Judenfrage« geht Schritt für Schritt voran. Die Mädchen mit den Zöpfen kommen nicht mehr. Immer öfter heulen die Sirenen, der Krieg kehrt dahin zurück, wo er ausgeheckt worden war.
Die Mädchenschule ist Teil eines jüdischen Areals, zu dem auch das benachbarte Haus gehörte, das heute die Nummern 14 bis 16 trägt. Ursprünglich hatte es der Architekt Knobloch 1861 als jüdisches Krankenhaus gebaut, Arme und Reiche, Juden und Christen wurden hier behandelt. Später steht »Ahawah« über dem Toreingang und als Leitmotiv über einem Kinderheim, das ab 1941 von seinem humanistischen Auftrag direkt in die Nazi-Barbarei gerät – es wird ein Sammellager der Gestapo, die letzte Station vor dem Abtransport. Nebenan, in »unserer« Mädchenschule, weinen, leiden und sterben deutsche Soldaten, denen die Nonnen vom benachbarten Krankenhaus die Wunden verbinden oder versuchen, in dem Lazarett hinter der Klinkerfassade den Flecktyphus ihrer Patienten zu lindern – bis alles vorbei ist mit den Nazis und dem Krieg, aber nun gibt es keine jüdischen Mädchen mehr, die in ihre Schule zurückkehren könnten. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat ein lesenswertes Buch über die Auguststraße geschrieben. Im Mittelpunkt steht zwar Ahawah – das vergessene Haus, die Nummer 14 - 16 –, aber bei der Suche nach dem Vergessenen finden sich reichlich Spuren zu der Mädchenschule in der Auguststraße 11 - 13. Regina Scheer: »Das Schweigen und Verdrängen, das mir begegnete, als ich in den siebziger und achtziger Jahren hier nach dem ›vergessenen Haus‹ in der Auguststraße fragte, ist heute geradezu einer Geschwätzigkeit gewichen. Die alten Einwohner, die gesehen haben, wonach ich fragte, gibt es kaum noch. Aber mehrmals am Tag gehen Touristengruppen hinter ihren Führern her und erkunden ›Spuren jüdischen Lebens‹ in der Spandauer Vorstadt, die hartnäckig als Scheunenviertel bezeichnet wird, obwohl das historische Scheunenviertel nur ein kleiner Teil dieses Gebietes ist, östlich von der Rosenthaler Straße. Auch durch die Auguststraße gehen heute Touristengruppen, betrachten schaudernd die immer mehr wie eine historische Kulisse wirkenden Häuser und Höfe, lassen sich das von der Bertolt-Brecht-Schule inzwischen geräumte Gebäude der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule zeigen...«
Die lokale Sensation der Kunstbiennale ist, daß das seit zehn Jahren leerstehende Haus bis zum 28. Mai besichtigt werden kann. Natürlich sollte man sich zunächst um die Kunstwerke kümmern, aber die Bilder, Plastiken und Exponate verschmelzen auf unheimliche Weise mit ihrer Umgebung, sind Teil der Inszenierung. Ein anderer Teil ist das morbid-marode-desaströse äußere Umfeld. Wir sind in eine Zeitkapsel geraten. Von den Decken blättert der Putz, hängen die Stalaktiten. An den Wänden wellen sich die Tapeten. Auf den staubigen Fensterbrettern liegt eine dicke Kruste vertrockneter Farbe, die, wenn man pustet, zerstäubt. Es riecht nach Schule, die DDR läßt durch ihr in tausenden von Fluren und Neubautreppen verlegtes Linoleum grüßen. Die Schule steht unter Denkmalschutz. So, wie sie 1996 geschlossen wurde, nachdem die Jüdische Gemeinde ihren Besitz zurückerhalten hatte, bietet sie sich uns dar, pur und unverfälscht. Jüngere Geschichte in der Konservendose. Nichts, außer einer knappen Beschreibung im Katalog, erinnert an die 1942 geschlossene Mädchenschule, die 64 Jahre danach sind fast ein Lebensalter, was bleibt, sind Worte und eine Fassade aus rot-braunen Klinkern.
Die jungen Künstler und Studenten, die in den Klassenräumen als Guides aufpassen, daß den Kunstwerken nichts geschieht, erzählen, daß schon in den ersten Tagen einstige Schüler der Bert-Brecht-Oberschule gekommen waren, um sich ihr Déjà-vu-Erlebnis zu verschaffen. Am Eingang blickt sie der Namenspatron an, gütig und freundlich, links neben Brechts Porträt haben sie eine Inschrift aus der Wand gemeißelt, vielleicht stand da das »Lob des Kommunismus«. Anna Hussel kann sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern. Die Kindergärtnerin war bis 1984 in dieser Schule. Erinnerungen? Schwach. Ungemütliche Klassenräume, altes Interieur. Ein Fahrstuhl, der nie ging. Eine Raucherecke auf dem Schulhof. Gegenüber ein Konsum, wo sie Zigaretten und Süßigkeiten kauften, obwohl man das Schulgebäude nicht verlassen durfte. Welche Beziehungen gab es zum berühmten Namensgeber? »Unsere Jugendweihe fand im Berliner Ensemble statt.« Hat man in Geschichte oder Staatsbürgerkunde über die Historie des Hauses, über die jüdischen Mädchen und ihr Schicksal gesprochen? »Nein, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.«
Die Zeiten sind wie Firnis über dem Gemäuer mit seinen fünf Stockwerken, den breiten Fluren und hohen Räumen geschichtet. »Uschi ein Wunder!« hat jemand mit Kreide an die Tür zum Turnsaal geschrieben. So etwas löst ebenso Assoziationsketten aus wie die Losung »Mit der Jugend der Welt für Frieden, Freiheit und Fortschritt« als unverwüstlicher Gruß in weißer Farbe zu den Weltfestspielen 1951 an der Hofseite der Schule, dort, wo jetzt die goldene Kuppel der Synagoge über Gittern und Beobachtungskameras glitzert und glänzt.
Ganz oben, im vierten Stock, treffen wir plötzlich doch noch auf ein Ausstellungsstück, das zu den Schulmädchen von damals zurückführt, auf dramatische Weise. Es stammt von dem Polen Robert Kusmirowski. Das braune Gebilde steht auf einer Schiene und elf Schwellen. Es ist ein Güterwaggon. Ja, genau so einer.
Die ehemalige Jüdische Mädchenschule, Augustraße 11-13, ist im Rahmen der 4. Berlin-Biennale bis zum 28. Mai zugänglich: Di-So 12-19, Do 12-21 Uhr.