Zinsen

In der Schuldenfalle

von Rabbiner Andreas Nachama

Studiert man an einer amerikanischen Universität, dann bekommt man im Fall des erfolgreichen Absolvierens eines Seminars »credits«, auf gut Deutsch: Leistungspunkte. Wer in den USA mit einer Kreditkarte bezahlt, gilt als solvent, vertrauenswürdig: Autovermietungen vertrauen demjenigen zum Beispiel auch einen Pkw der Klasse an, die im Fall des Neukaufs durchaus einen sechsstelligen Eurobetrag ausmacht. Kreditwürdig zu sein, heißt in den USA Zukunft zu haben.
Ganz anders in Europa: Hier gilt »spare bei Zeiten«, denn der Kredit gilt als verantwortungslose Schuldenmacherei. Spießige Stadtkämmerer aus nahezu allen Parteien sparen lieber, als dass sie in die Zukunft investieren. Wenn man im Rückblick diese Art von Politik betrachtet, so könnte man auch sagen: Spare bei Zeiten, dann hat man in der Zukunft auch nichts. Wissen wir doch, dass ein Millionär aus den 1950er-Jahren heute mindestens ein Milliardär sein muss, um den gleichen Status in der Gesellschaft zu haben wie damals. Selbst wenn Kredite von heute nicht getilgt würden, so ist ihr Kaufkraftwert in 50 Jahren ein Bruchteil des heutigen Wertes –die Belastung für zukünftige Generationen kann nicht mit dem heutigen Wert fortgeschrieben werden. Teile der Agenda 2010 könnten unter dieser Überschrift verbucht werden. Wer glaubt daran, dass durch Sparmaßnahmen der Politiker anno 2001 wirklich die Rente eines 1980 Geborenen im Jahr 2050 auch nur hundert Euro derheutigen Kaufkraft (wenn es denn bis da-
hin diese Währung überhaupt noch gibt) mehr auf dem Rentenbescheid hat?
Welchen Weg wären Deutschland, Europa, die Juden in Deutschland und dann die von Deutschland besetzten europäischen Länder gegangen, hätten die deutschen Politiker am Ende der Weimarer Republik mit Krediten in die Zukunft investiert, statt mit Notverordnungen und gewaltigen Einsparungen dazu beizutragen, dass immer mehr Menschen arbeitslos wurden und außer bei den Volksverhetzern der NSDAP keine Perspektiven mehr sahen? So gesehen sind auch sogenannte konsumtive Ausgaben, die immer von den investiven unterschieden werden, investiv, denn, was immer den gesellschaftlichen Frieden grundsichert, ist eine Rieseninvestition in die Zukunft.
Vor diesem Hintergrund gälte es auch sehr kritisch danach zu fragen, ob es wirklich im Sinn der Demokratieerhaltung ist, etwa grundgesetzlich die Aufnahme von Krediten durch Kommunen, Länder oder den Bund verbieten zu lassen. Zukünftige Generationen mussten immer mit den Hypotheken umgehen, die ihnen die Vorfahren hinterlassen hatten: Israeliten mussten aus Ägypten ausziehen, weil Jakob und seine Brüder wegen der großen Hungersnot dorthin gegangen waren. Die Menschen des 17. Jahrhunderts mussten mit den Folgen des Dreißigjährigen Krieges umgehen, wie nach 1945 Verfolger wie Verfolgte und deren Nachkommen mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs leben müssen. Es gilt aber auch für die positiven Konsequenzen: Müssen wir das Rad, das Feuerzeug oder die Telekommunikation neu erfinden? Leben wir nicht von den positiven Errungenschaften unserer Vorfahren – warum also nicht auch mit deren Hypotheken?
Wir alle kennen die Geschichte von dem Mandelbrotbaum, den einer pflanzt, obwohl er weiß, dass erst die nächste Generation die Früchte genießen kann. Daraus würde eine ganz andere Frage. Kann man, soll man, darf man überschüssige Erträge ausgeben oder ist es nicht vielmehr ein Gebot der Fairness, sie für zukünftige Generationen zu thesaurieren? Darf man in Zeiten, in denen Milliarden an zusätzlichen Steuereinnahmen durch überhöhte Ölpreise eingenommen werden, diese zusätzlichen Einnahmen für zusätzliche konsumtive Ausgaben verjubeln oder wäre es nicht ein Gebot der Klugheit, sie wie in den fetten Jahren des biblischen Ägyptens zur Zeit Josephs zurückzulegen?
Was würde passieren, wenn der Staat keine Kredite mehr bräuchte? Würden die Zinsen fallen? Würden diejenigen, die ihr Leben lang gespart haben, um den Ertrag ihrer Ersparnisse gebracht, weil niemand ihr Kapital mehr braucht? Ganz davon zu schweigen, dass es nicht wenige gibt, die ohne die Zinserträge ihres Kapitals, das sie ein Arbeitsleben lang zur Seite gelegt haben, arm wie eine Kirchenmaus wären. Das Schicksal von Kirchenmäusen könnte uns nun aus einer jüdischen Sicht gleichgültig sein, wenn da nicht das mehrmals wiederholte biblische Verbot wäre, außer von einem feindlichen Fremden (Sar), keine Zinsen zu erheben. Ein Sar ist unvereinbar, ja feindlich mit dem Glauben Israels. Von ihm können beispielsweise Zinsen verlangt werden (5. Buch Moses 23, 20-21), nicht jedoch von einem Fremdling (Ger), der im Lande wohnt. 2. Buch Moses 22, 20-21): »Einen Fremdling sollst du nicht unterdrücken und ihn nicht bedrängen. Denn Fremdlinge seid ihr selbst gewesen im Lande Ägypten. Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht unterdrücken.«
Das biblische Zinsverbot gilt für diejenigen, die einen Kredit aufnehmen, weil sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten (3. Buch Moses 25, 35-37): »Wenn dein Bruder verarmt und sich neben dir nicht halten kann, sollst du ihn wie auch einen Fremden (Ger) unterstützen … nimm von ihm keinen Zins.« Eine solche Notlage soll man innerhalb einer Familie oder später des Verbunds der Israeliten sowie derjenigen, die sich als Fremde dauerhaft bei ihnen aufhalten, nicht ausnutzen, sondern diejenigen, die in eine solche Notlage geraten sind (wie zum Beispiel Witwen und Waisen) durch zinslose Darlehn, besser noch durch »Zedaka«, die nicht zurückgezahlt wird, unterstützen.
Was aber wenn der Kredit gar nicht für jemanden bestimmt war, der bedürftig war, sondern für jemanden, der damit etwa eine Investition tätigen wollte? Die Rabbiner kreierten daraus die Gegengabe des Schuldners, wenn man so will, die Gewinnbeteiligung (Talmud, Baba Mezia 61b/67a) des Gläubigers. Diese Gewinnbeteiligung dient bei den Zukunftsinvestitionen, die die öffentlichen Haushalte in Form von Forschungsförderung, Pflege und Ausbau der Infrastruktur des Landes dem inneren sozialen Frieden. Kredite im Bundeshaushalt verdrängen keine Zedaka, sondern stehen eher für Investitionen in die Zukunft wie bei jenem Mandelbrotbaum, den einer pflanzt, obwohl er selbst kaum noch die Früchte wird genießen können. Insofern ist der Bundeshaushalt bei seinem Kreditvolumen sehr koscher.

Fernsehen

Mit KI besser ermitteln?

Künstliche Intelligenz tut in Sekundenschnelle, wofür wir Menschen Stunden und Tage brauchen. Auch Ermittlungsarbeit bei der Polizei kann die KI. Aber will man das?

von Christiane Bosch  21.04.2025

Reaktionen

Europäische Rabbiner: Papst Franziskus engagierte sich für Frieden in der Welt

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, würdigt das verstorbene Oberhaupt der katholischen Kirche

 21.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Indischer Ozean

Malediven will Israelis die Einreise verbieten

Es ist nicht die erste Ankündigung dieser Art: Urlauber aus Israel sollen das Urlaubsparadies nicht mehr besuchen dürfen. Das muslimische Land will damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen.

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Spenden

Mazze als Mizwa

Mitarbeiter vom Zentralratsprojekt »Mitzvah Day« übergaben Gesäuertes an die Berliner Tafel

von Katrin Richter  10.04.2025

Jerusalem

Oberstes Gericht berät über Entlassung des Schin-Bet-Chefs

Die Entlassung von Ronen Bar löste Massenproteste in Israel aus. Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem »Mangel an Vertrauen«

 08.04.2025

Würdigung

Steinmeier gratuliert Ex-Botschafter Primor zum 90. Geburtstag

Er wurde vielfach ausgezeichnet und für seine Verdienste geehrt. Zu seinem 90. Geburtstag würdigt Bundespräsident Steinmeier Israels früheren Botschafter Avi Primor - und nennt ihn einen Vorreiter

von Birgit Wilke  07.04.2025

Weimar

Historiker Wagner sieht schwindendes Bewusstsein für NS-Verbrechen

Wagner betonte, wie wichtig es sei, sich im Alltag »gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Muslimfeindlichkeit und gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« zu engagieren

 07.04.2025