von André Paul
Mila Tsilija-Podolska ist davon überzeugt, ihre Wurzeln entdeckt zu haben. Geboren in der Ukraine verlor die heute knapp 60jährige als kleines Mädchen ihre Mutter und damit die einzige Verbindung zu ihrer jüdischen Herkunft. Die Stiefmutter brachte die Kleine in die orthodoxe Kirche. Nun, nach über einem halben Jahrhundert, meint Mila Tsilija-Podolska, die vor einigen Jahren als jüdische Zuwanderin nach Chemnitz kam, ihre jüdischen Wurzeln wiedergefunden zu haben – allerdings über Jesus.
Bis dahin scheint es eine Privatangelegenheit zu sein. Doch als bekannt wird, daß Mila Tsilija-Podolska unter zugewanderten Juden für ihren Weg wirbt, geht ein Aufschrei durch die jüdische Gemeinde. Zu sehr verbinden Juden mit dem Wort Mission Zwangstaufen und Gewalt.
»Erneut sollen in Deutschland Juden missioniert werden«, empört sich Ruth Röcher, Religionslehrerin der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Nach der Schoa könne das Wort »Mission« für jeden Juden nicht mehr nur ein Werben um Gläubige, sondern ein erneuter Versuch der Vernichtung bedeuten. Am Ende der DDR bestand die Chemnitzer Gemeinde nur noch aus einem Dutzend zumeist alter Menschen, das Ende der Gemeinde zeichnete sich ab. Erst der Zuzug von Hunderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gab neue Hoffnung: Die Gemeinde wuchs, Kinder wurden geboren, eine neue Synagoge errichtet. Das jüdische Leben in Chemnitz entwickelte sich. Bis Mila Tsilija-Podolska kam und Verwirrung stiftete.
Die füllige Frau mit dem pechschwarzen, hochgesteckten Haar nennt sich Pastorin und steht der Gemeinde messianischer Juden »Neuer Wein« vor. Sie haben ein kleines Büro angemietet im Erdgeschoß eines Hauses an einer Ausfallstraße im Chemnitzer Westen, direkt neben einem Tabakladen und einer Zahnarztpraxis. Im Fenster hängt ein Plakat: Sonnenstrahlen im Hintergrund, davor ein Gebetstext: »Segne mich und erweitere mein Gebiet«, lauten die ersten Zeilen. Man muß kein Dialektiker sein, um daraus auch die Suche nach neuen Anhängern abzuleiten. Außerdem lädt ein DIN-A4-Blatt »jeden Interessierten« zum Gottesdienst ein, immer am Samstagnachmittag. Weil das Büro zu klein ist, trifft man sich an anderem Ort. Hier kommen nun auch freikirchliche Kreise ins Spiel.
Der andere Ort ist eine Baracke im Eigentum der Chemnitzer Heilsarmee. Und deren Kapitän Frank Heinrich bestätigt ohne Umschweife, daß man selbstverständlich an die messianischen Juden untervermiete und sie auch logistisch unterstütze. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der Evangelischen Allianz, einem Zusammenschluß freikirchlicher Christen, verpflichte zur Hilfe.
Die messianischen Juden sehen in Jesus den Messias. Sie feiern zwar die biblischen jüdischen Feste, tun dies aber entsprechend eigener Vorlieben. Sie folgen nicht der jüdischen Überlieferung. Oft gründen sie eigene Gemeinden für ihre Gottesdienste und folgen den Lehren des Neuen Testaments. Dementsprechend nehmen sie auch Nichtjuden als Mitglieder auf.
Pastorin Mila sagt, sie und die ihren seien Juden, nur eben solche, die Jesus für den Messias halten. Für Ruth Röcher steht fest: »Sie vermischen Glaubensinhalte in unannehmbarer Weise.« In ihren Augen handelt es sich um Christen. Heilsarmee-Kapitän Heinrich und andere aus freikirchlichen Kreisen halten die Messianischen für irgend etwas dazwischen.
Einige Beispiele der Glaubenspraxis scheinen das theologische Durcheinander zu bestätigen: Die Gemeinde vom »Neuen Wein« – ihr Symbol ist ein zum Trinkkelch auslaufender Davidstern mit einer großen saftigen Traube im Mittelpunkt – feiert ihre Gottesdienste immer am Schabbat. Die neugeborenen Jungen werden beschnitten, gleichzeitig aber auch nach christlichem Vorbild getauft. Ein Kruzifix wiederum fehlt in sämtlichen Räumen. »Ich fühle mich hier persönlicher angesprochen«, läßt Lilia, eine 63jährige Gottesdienstbesucherin, auf Nachfrage ihre Motive übersetzen. Bei knapp 30 Gläubigen ist das auch nicht schwer.
Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Chemnitz besuchten vor mehreren Monaten einen Gottesdienst der messianischen Juden. Einige von ihnen sprangen während der Veranstaltung auf und kritisierten, daß die Missionare die Ahnungslosigkeit und mangelnde religiöse Vorbildung vieler Zuwanderer ausnutzten.
»Wir haben als Juden in den Wohnheimen der Zuwanderer geworben«, gibt Mila Tsilija-Podolska, die Vorsteherin der Messianischen, zu. Inzwischen jedoch hätten sie damit aufgehört. Später erzählt ihre Tochter, erst im vergangenen Oktober aus dem Chemnitzer Telefonbuch 600 »osteuropäisch klingende Namen« herausgesucht und telefonisch zu einem Gemeindeabend eingeladen zu haben.
»Es ist es unverantwortlich, die schwierige Aufbauphase der jüdischen Gemeinde durch Missionierungsversuche zu stören«, sagt Andreas Conzendorf, Superintendent der evangelischen Landeskirche in Chemnitz. Er würde es seinen Pfarrern untersagen, den messianischen Juden Räume und Logistik zur Verfügung zu stellen, wie dies die Heilsarmee tut. Daniel Naumann, der Vorsitzende der Chemnitzer Arbeitsgruppe der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, beobachtet derzeit bei vielen freikirchlichen Gemeinden eine »Affinität zu Juden, die sich aber eher auf die messianischen Juden bezieht«. Matthias Oelke, Sprecher des sächsischen evangelischen Landeskirchenamtes wirbt dafür, daß sich Christen und Juden in Sachsen künftig bei Bedarf häufiger zusammenfinden, um Strategien zu entwickeln, mit denen man gemeinsam solchen Entwicklungen vorbeugen könne.
Die Vorgänge in Chemnitz sind keine Einzelerscheinung. Eine zunehmend aggressive Missionierung ist seit der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auch in anderen deutschen Städten zu beobachten.