von Harald Welzer
Günter Grass war bei der Waffen-SS. Ein überraschendes Eingeständnis? Nein. Bei Angehörigen seiner Generation sollte man auch dann auf ein solche Bekenntnis gefaßt sein, wenn sich bei ihnen nach dem Krieg erhebliche Bewußtseinswandel vollzogen haben. Denn man kann an eine gelebte Geschichte gefühlsmäßig gebunden sein, die man intellektuell längst bewältigt hat. Solche nachhaltigen Bindungen äußern sich im Habitus und in Deutungsmustern, und man muß nicht sehr intensiv suchen, um sie zu entdecken. Bei Grass etwa findet sich im FAZ-Interview schon bald nach seinem Bekenntnis der Satz, die Nachkriegszeit war »durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hätte«. Wenig später macht der Schriftsteller die mittlerweile vielzitierte Mitteilung, er habe »direkten Rassismus« erst in amerikanischer Kriegsgefangenschaft kennengelernt; über Paul Celan weiß er zu berichten, dieser habe unter »realen und auch übersteigerten Ängsten« gelitten. Blättert man noch einmal zurück, um sich vor dem Hintergrund dieser irritierenden Bemerkungen über seine Zeit bei der Waffen-SS zu informieren, erfährt man wenig Konkretes.
Das ist, Zeitzeugeninterviews belegen es, durchaus gewöhnlich. Außer der puren Information, man sei bei irgendeiner Einheit gewesen, werden keine weiteren Details geliefert. Grass beklagt sich bloß über die »Hundsschleiferei« bei der Waffen-SS und daß es da nur »eine unzureichende Ausbildung mit veraltetem Gerät« gegeben habe. Der Erzähler zieht in allen zitierten Passagen also offensichtlich Referenzrahmen seiner damaligen Wahrnehmung heran: Über die Ausbildung zeigt er sich enttäuscht, der jüdische Dichter erscheint ihm befremdend ängstlich. Rassismus war ihm vorher, im Dritten Reich, gar nicht aufgefallen, und sein antibürgerlicher Affekt richtet sich keineswegs gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen die Nachkriegsgesellschaft.
Das gleiche Muster findet sich in vielen Gesprächen mit Zeitzeugen: Kognitiv befinden sie sich voll auf der Höhe eines kritischen Vergangenheitsdiskurses, emotional aber sprechen sie vor dem Hintergrund einer gelebten Erfahrung, die ganz andere Teile in das Gesagte, Gedachte und Gefühlte einmischt. Damit geht ein frappanter Mangel an Transferleistungen einher – bei Grass zum Beispiel zwischen seinem Schweigen und seiner Empörung über die »Verlogenheit« der Nachkriegsgesellschaft. Oder zwischen seiner Verdammung der NS-Zeit und seiner obszönen Bemerkung über den Rassismus. Oder zwischen dem kritischen Schriftsteller und dem ehemaligen Waffen-SS-Mann, der über die Seelenlage eines Davongekommenen befindet.
Diese Unfähigkeit, sich selbst zu belehren, findet sich bei vielen Angehörigen dieser Generation. Zum Beispiel, wenn ein ehemaliger SS-Mann erzählt, wie er Kriegsgefangene erschossen hat, »die so blöd waren, sich zu ergeben«, zugleich aber erschüttert über den Vernichtungskrieg ist. Diese Art Unfähigkeit fand sich auch, als so viele ehemalige Soldaten die »Wehrmachtsausstellung« besuchten und beim Hinausgehen empört mitteilten, so was habe es bei ihnen nicht gegeben. Das war nicht gelogen. Es war schlimmer: In ihrer damaligen Wahrnehmung hatten sie keine Verbrechen begangen oder verbrecherischen Organisationen angehört; sie hatten nur »versucht durchzukommen«, waren »Kameraden« und »immer anständig« – nach den Normen der Zeit. Wegen dieser Gebundenheit an die damaligen Referenzrahmen können die Angehörigen dieser Generation nicht begreifen, daß sie Teil eines gegenmenschlichen Projekts waren, das es ohne ihre Teilhabe nicht gegeben hätte.
Wenn der amerikanische Schriftsteller Louis Begley in der FAZ schreibt, er sei auch an der Ostfront gewesen, aber »nicht als Soldat, sondern als Tier, das zur Jagd freigegeben war und umgebracht werden sollte«, dann benennt er die Kluft zwischen jenen, die auf seiten der Täter und jenen, die auf seiten der Opfer standen. Daß diese Kluft unüberbrückbar ist, haben viele aus Grass’ Generation nie verstanden. Der übrigens schreibt in einem peinlichen Brief an den Danziger Bürgermeister, die öffentliche Kontroverse um ihn habe »existentiell bedrohliche Ausmaße« angenommen.
Diese Distanzlosigkeit sich selbst gegenüber, die eine Anerkennung dessen, was anderen angetan wurde, über bloße Bekenntnisrhetorik hinaus nie im Sinn und im Gefühl gehabt hat, scheint sozialpsychologisch ein Erbe der NS-Zeit: ein Habitus des Immer-Recht-Habens, der Larmoyanz, übrigens auch der Unfähigkeit zur Selbstironie. Totalitäre Systeme sind solche, in denen absolute Gewißheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Wer in einer solchen Gewißheitswelt groß geworden ist, bleibt nachhaltig feindselig gegenüber Ambivalenz – besonders, wenn es die eigene ist.
Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er leitet das Zentrum für interdisziplinäre Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Zuletzt erschien von ihm »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«.