Das Bundesverfassungsgericht hat vergangene Woche ein sensationelles Urteil gefällt: Nicht, weil die Karlsruher Richter den Paragrafen 130 Absatz 4 des Strafgesetzbuches für verfassungskonform erklärt haben. Sondern, weil sie sich mit ihrer Begründung über den Wortlaut des Grundge- setzes hinweggesetzt haben.
Der im Jahr 2005 eingeführte Straftatbestand der Volksverhetzung stellt sicher, dass die öffentliche Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann. So war es Verwaltungsgerichten möglich, Neonaziaufmärsche, wie zum Beispiel im bayerischen Wunsiedel zu Ehren des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, zu verbieten. Gegen dieses Verbot hatte der kürzlich verstorbene NPD-Vize Jürgen Rieger durch alle Instanzen geklagt.
Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar in früheren Urteilen bereits die Propaganda- und Kennzeichendelikte sowie das Verbot der Holocaustleugnung abgesegnet. Allerdings hatte dieses Verbot formaljuristisch einen Pferdefuß, der gewichtig genug war, die Strafnorm zu Fall zu bringen und die Nazis wieder marschieren zu lassen. Wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit durch ein Gesetz eingeschränkt, so muss es sich bei diesem um ein »allgemeines Gesetz« handeln. Das richtet sich nicht schlechthin gegen eine bestimmte Meinung und wird nicht situationsbedingt erlassen.
Paragraf 130 Absatz 4 StGB betrifft aber bestimmte Meinungen, nämlich solche, die den Nationalsozialismus verherrlichen. Zudem ist das Gesetz situationsbedingt erlassen worden, um Demonstrationen, wie zum Beispiel in Wunsiedel, verbieten zu können. Streng genommen ist es also ein Sondergesetz und war damit für verfassungswidrig zu erklären.
Dies sahen die Richter des Ersten Senats unter Federführung von Richter Masing zwar ein, übergingen jedoch in ihrer Entscheidung so nonchalant wie elegant den Wortlaut des Grundgesetzes. Verfassungsrechtler dürften sich verwundert die Augen reiben: Zutreffend ist, dass es sich hier um ein Sonderrecht handele. Ausnahmsweise sei dies dennoch verfassungskonform. Auch, wenn der Meinungsfreiheitsartikel keine derartige Ausnahme zu lasse, sei doch die gesamte Architektur des Grundgesetzes eine dem Naziregime antithetisch gegenüberstehende Verfassungsordnung. Diese »gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung« des Nazireiches las- se sich nun mal nur schwerlich in allgemeine Normen fassen, so die Richter. Damit erkennt das Bundesverfassungsgericht de facto die Existenz eines »Identitätsstrafrechts« an, das nicht durch den Schutz subjektiver Rechte, sondern durch die kollektiven Wertüberzeugungen einer politischen Gemeinschaft legitimiert wird.
Diese Begründung ist für den konservativen Berufsstand der Juristen höchst ungewöhnlich. Ein Strafgesetz auf den Identitätskern einer politischen Ordnung zu stüt- zen, scheint eine abenteuerliche Idee – trotz der Verantwortung der Deutschen für Auschwitz. Noch vergangenes Jahr hatten die scheidenden Verfassungsrichter Winfried Hassemer und Wolfgang Hoffmann-Riem das Verbot der Holocaustleugnung kritisiert.
Die Karlsruher Richter haben jetzt ganz unpositivistisch gegen den konkreten Wortlaut, aber dennoch im Geiste des Grundgesetzes entschieden. Und bewiesen, dass auch Juristen aus der Nazivergangenheit lernen können.
justiz