talmud-tora

Immer wieder neu

Mit Worten des Trostes beginnt die Prophetenlesung aus Jesaja 40, die dem nächsten Schabbat seinen Namen gegeben hat: Nachamu.
»Nachamu nachamu ami, jomar eloheichem ...« – »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott, zu Herzen redet Jerusalem und rufet ihr zu, dass vollendet ist ihre Fron, abgegolten ihre Schuld, weil sie doppelt aus der Hand Gottes für all ihre Übertretungen empfangen hat.«
Angesichts der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung ins babylonische Exil berichtet der Prophet von neuer Hoffnung, ja Gewissheit, dass Gott sein Volk nicht vergessen hat. Die Vertriebenen werden zurückkehren, Jerusalem und der Tempel werden wieder aufgebaut.
Dieses Versprechen von Hoffnung, von glücklicher Zukunft wird am Schabbat nach Tischa be Aw gelesen. Zehn besondere Prophetenlesungen begleiten uns durch den Sommer. Drei Haftarot de-pur’anuta, der Anklage, stimmen uns auf Tischa be Aw, den Tag der Erinnerung an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, ein. Auf diesen Trauertag, der zum Tag der Erinnerung an viele Katastrophen in der jüdischen Geschichte geworden ist, folgen sieben Haftarot de-nechemata, des Trostes, die uns bis zum Beginn der Hohen Feiertage begleiten.
Schabbat Nachamu ist in dieser Reihe wie ein Paukenschlag, mit dem abrupt von der Trauer an Tischa be Aw zur Freude gewechselt wird. Im Buch Jesaja selbst wie auch in den synagogalen Lesungen ist der Stimmungsumschwung radikal. Gerade noch war die Ankündigung des Untergangs das bestimmende Thema, die Aufforderung an das Volk, von Lüge, Raub und Mord abzulassen. Jetzt wird Gottes Kommen als Retter angekündigt, wird die Erwartung eines friedlichen guten Lebens ganz nahegerückt.

perspektiven Neben diesem Wechsel der Stimmung verändert sich auch die Perspektive. Tischa be Aw erinnert an eine nationale Katastrophe, die durch das Verhalten der Gemeinschaft, des Volkes insgesamt, ausgelöst wurde. Rosch Haschana und Jom Kippur, auf die sich mit diesem Schabbat schon der Blick richtet, sind der Tag des Gerichts für die ganze Welt, jedoch für jeden Menschen als Einzelnen.
Diesen beiden Aspekten, dem Schicksal des Kollektivs und dem des Individuums, kann man zwei Bilder von Gott zur Seite stellen, die wir in der Haftara finden: »Siehe Euer Gott, siehe Gott der Ewige, kommt mit Stärke, sein Arm herrscht für ihn, siehe sein Lohn ist mit ihm und sein Entgelt vor ihm« (Jesaja 40,10).
Hier sehen wir Gott den Herrscher und Krieger, der seinen Willen mit Gewalt durchsetzt und nicht den Einzelnen im Blick hat. In der Fortsetzung aber ändert sich das Bild von Gott: »Wie ein Hirte weidet er seine Herde, Lämmer hält er in seinem Arm und trägt sie an seinem Busen, er geleitet die Mutterschafe« (40,11). Diese beiden Aspekte Gottes entsprechen den beiden traditionellen göttlichen Eigenschaften der Gerechtigkeit und des Erbarmens – Midat hadin und Midat harachamim.
Die ganze Serie der Haftarot de-nechemata weist schon auf die Hohen Feiertage voraus, und besonders das Bild des Schäfers, das nicht nur hier, sondern beispielsweise auch in Ezechiel 34 gebraucht wird. Im Unetane tokef zu Jom Kippur wird das Bild des Schäfers weiter entfaltet, wenn Gott am Tag des Gerichts alle Menschen richtet »wie ein Schäfer, der seine Herde unter dem Stock passieren lässt«.
Nicht jeder Tag aber ist Tischa be Aw oder Jom Kippur. Nicht jeder Tag stellt uns vor Fragen von Leben und Tod. Unseren Alltag prägen mehr die Mühen. Viele kleine Taten und Unterlassungen entscheiden, ob dieser Tag, diese Woche oder auch dieses Jahr gelungen ist und Gottes Willen entspricht. Die Anleitung für ein solches Leben im Alltag ist die Halacha, die traditionell 613 Gebote und Verbote umfasst. Ihr Kern aber sind die Zehn Gebote, die in unserem Wochenabschnitt Wa’etchanan gelesen werden (5. Buch Moses 5, 6-18). Fünf Gebote, die gegenüber Gott gelten und fünf gegenüber anderen Menschen. Wer keine anderen Götter anbetet, den Schabbat hält, die Eltern ehrt und weder mordet noch stiehlt oder lügt, hat wohl mehr getan, als die meisten Menschen von sich sagen können. Die wenigsten dieser Gebote sind spezifisch jüdisch, sie entsprechen schlicht der universalen Moral der Menschheit.

lernen Eine jüdische Besonderheit allerdings finden wir in unserer Parascha einige Verse vor den Zehn Geboten. Mosche fordert das Volk auf, die Gesetze und Regeln, die er ihm in Gottes Auftrag verkündet, zu lernen und sie zu erfüllen (5. Buch Moses 5,1). Diese Aufforderung zum Lernen hat im Judentum zentrale Bedeutung erlangt. Es leuchtet ein, dass man Gesetze und Regeln lernen muss, wenn man sie erfüllen möchte. Die jüdische Tradition aber ging weit darüber hinaus. Die rabbinische Aussage »Talmud tora keneged kulam – das Lernen der Tora ist wichtiger als alle anderen Gebote« wurde zum Beispiel in den litauischen Jeschiwot dahingehend verstanden, absichtlich jene Bereiche des jüdischen Rechts zu studieren, die keinerlei praktische Relevanz in der Gegenwart haben, wie etwa die Regeln für den Tempelgottesdienst. Dieses Lernen um des Lernens willen hat das Judentum selbst in den ärmsten Schichten geprägt und entscheidend zur geistigen Offenheit beigetragen. Und gerade die uns immer wieder einen Neuanfang unternehmen lassen, egal wo die großen Ereignisse der Geschichte uns als Einzelne und als Volk hingebracht haben.

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