München Jakobsplatz

»Immer ragst du mir in meine Träume«

von Ellen Presser

Ein jüdisches Ghetto hat es in München nie gegeben. Wohl aber eine Judengasse und Pogrome: 1285 und 1349. Immer wieder gab es im Mittelalter Ansiedlungen von Juden, doch nie dauerhaft und nur im Schatten der Regensburger und Augsburger Gemeinde. Von einer Israelitischen Kultusgemeinde kann man in München eigentlich erst ab 1815 sprechen. Zwar müssen für die extravaganten Bedürfnisse des Hofes einzelne jüdische Hoffaktoren zeitweise zugelassen worden sein, doch 1616 war das Aufenthalts-, Handels- und Gewerbeverbot für Juden in Bayern nochmals bekräftigt worden. Die erste amtlich belegte Aufenthaltsberechtigung für einen Juden ist für 1718 nachgewiesen. Nach der amtlichen Zulassung 1815 folgte ein Jahr später die Bewilligung eines jüdischen Begräbnisplatzes vor den Toren Münchens an der Thalkirchner Straße. Die Grundsteinlegung der ersten Synagoge war 1824 nur möglich, weil die Behörden eine überschaubare Gebetsstätte den privaten, nicht kontrollierbaren »Nebenschulen« vorzogen. So entstand in der Theaterstraße – heute Westenrieder Straße – die erste richtige Synagoge Münchens.
Nie waren es »Filetstücke« der Stadt, die für jüdische Bauvorhaben eingeräumt wurden. Das galt für die erste Synagoge im anrüchigen Quartier nahe der Stadtmauer ebenso wie für den Standort der 1887 eingeweihten prächtigen neuen Hauptsynagoge im neoromanischen Stil an der Herzog-Max-Straße.
Man könnte die Geschichte der Juden allein entlang ihrer Synagoge erzählen, dem Ringen von Orthodoxie und Liberalität, die vor 1933 mehrheitlich zugunsten des liberalen Judentums stand und sich nach der Befreiung und der Änderung der Mehrheitsverhältnisse zugunsten eher orthodox orientierter jüdischer KZ-Überlebender und Flüchtlinge wendete.
Doch das Selbstverständnis der Juden Münchens drückt sich nicht nur in der Baugeschichte, sondern in den unterschiedlichsten Reaktionen auf die ablehnende, wenn nicht gar judenfeindliche Haltung der katholischen Mehrheitsgesellschaft aus. Während die Bankiersfamilie von Hirsch Adelsprädikat und Judentum unter einen Hut brachte, erlangte der Hoffaktor Aaron Elias Seligmann erst durch katholische Taufe 1814 den erblichen Freiherrnstatus derer von Eichthal. Alle zehn Kinder folgten, sein Sohn Simon war maßgeblich an der Gründung der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank beteiligt. Hoffte der getaufte Jude Heinrich Heine 1827 noch vergeblich auf eine Berufung auf den Lehrstuhl für Literaturgeschichte, so fand die Jüdin Nanette Kaula unter demselben König Ludwig I. wenigstens Eingang in dessen Schönheitsgalerie.
Trotz Assimilation wuchs die jüdische Gemeinde jedoch stetig. Dafür sorgte schon der Zuzug aus den Landgemeinden, die Persönlichkeiten wie die Antiquarsfamilie Rosenthal, die Feuchtwangers und die Familie Schülein einschloß, die ihr Unionsbräu erfolgreich 1921 mit dem der Fa. Löwenbräu fusionierte. Die seit den 1880er Jahren verstärkte Zuwanderung aus Osteuropa ließ die jüdische Einwohnerschaft Münchens vor dem Ersten Weltkrieg auf ihren höchsten Wert anwachsen: rund 11.000 Menschen. Das hatte 1906 nicht nur die Anlage eines neuen Friedhofs zur Folge, auf dem ein Mahnmal von rund 180 jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs kündet. Es führte 1931 auch zum Bau einer Synagoge im Hinterhof der Reichenbachstraße, die bis November 1938 allein für die sogenannten Ostjuden und ab Mai 1947 für nochmals 59 Jahre bis zum 8. November 2006 als Hauptsynagoge dienen sollte.
Politiker wie der Sozialdemokrat und erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner wollten davon nichts in Anspruch nehmen. Wie viele andere assimilierte Juden verzichtete er auf eine Mitgliedschaft in der Israelitischen Kultusgemeinde und wurde dennoch als Jude ermordet und auf Anordnung der Nationalsozialisten 1933 unverzüglich vom Ostfriedhof auf den Neuen Jüdischen Friedhof verlegt.
Mit München verbindet sich auch der Roman Erfolg von Lion Feuchtwanger, der ebenso wie Albert Einstein hier seine Kindheit verbrachte. Die Dirigenten Bruno Walter und Hermann Levi sowie der Theaterregisseur Max Reinhardt feierten in der Vor- NS-Zeit hier ihre Erfolge, wie es nach 1945 die Schauspielerin Therese Giehse und der Regisseur Fritz Kortner tun sollten. Manche renommierten Persönlichkeiten versuchten den Neuanfang: der Kinderarzt und Theresienstadtrückkehrer Julius Spanier gründete gemeinsam mit dem angesehenen Rechtsanwalt Fritz (Siegfried) Neuland, der als Zwangsarbeiter überlebte, am 19. Juli 1945 die Israelitische Kultusgemeinde neu. Sie hatten den Untergang einer blühenden jüdischen Gemeinde erlebt in einer Stadt, die seit 1935 den zweifelhaften Titel »Hauptstadt der Bewegung« trug und von der viele antijüdische Entrechtungs- und »Arisierungs«-Verordnungen ausgingen.
Die Gemeinde, deren Geschicke Fritz Neuland, der Vater der IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, von 1951 bis zu seinem Tod 1969 leiten sollte, hatte nichts mehr mit der ursprünglichen gemeinsam. Sie setzte sich bis auf eine Handvoll deutscher Juden aus Juden der osteuropäischen Länder zusammen, die orthodoxe Gebetstradition und jiddische Sprache mitbrachten. Ein Phänomen aber ist in der jüdischen Gemeinde Münchens durch alle historischen Fährnisse gleich geblieben: Sie war und ist eine ausgesprochene Zuwanderungsgemeinde. Das gilt auch für das letzte halbe Jahrhundert: Ende der 50er Jahre kamen Juden aus Ungarn, Ende der 60er Jahre aus Polen und der Tschechoslowakei, Anfang der 70er Jahre und kontinuierlich seit den 90ern aus dem russischsprachigen Raum. Auch Israelis zog es in die Isarmetropole, über die der gebürtige Münchner Schalom Ben-Chorin 1937 in Jerusalem schrieb: »Immer ragst du mir in meine Träume / Meiner Jugend – zartgeliebte Stadt / Die so rauschende Kastanienbäume/ Und das Licht des nahen Südens hat.«
1956 war der Religionsphilosoph, der einmal Fritz Rosenthal geheißen hatte, zum ersten Mal zu Besuch gekommen. Nichts konnte seine Heimatliebe über die folgenden Jahrzehnte des Lebens in Jerusalem beirren: weder schwere Verwüstungen in den 60er Jahren auf dem Alten Jüdischen Friedhof noch der Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus, dem sieben Senioren in der Nacht vom 13. Februar 1970 zum Opfer fielen noch das Olympia-Massaker vom 5. September 1972.
»Wer ein Haus baut, hat eine Heimat gefunden.« In diesem Satz von Charlotte Knobloch anläßlich der Ausstellungseröffnung »Synagogen in Deutschland« bündelt sich die in den vergangenen 30 Jahren errungene Position der Münchner Kehilla. Mit dem neuen Jüdischen Zentrum sind die äußeren Rahmenbedingungen vollendet. Passend zu einem Gefühl, das schon längst da ist: sich im Herzen der Stadtgesellschaft wieder zu Hause zu fühlen.

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