Ernst Ludwig Ehrlich, 1921 in Berlin geboren, studierte von 1940 bis 1942 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bei Leo Baeck. Nach Schließung der Hochschule durch die Nazis mußte er Zwangsarbeit leisten. 1943 gelang ihm die Flucht in die Schweiz, seitdem wohnt er in einem Vorort von Basel. Seit 1955 führten ihn Lehraufträge nach Zürich, Bern, Frankfurt am Main und Berlin. 1989 wurde er Honorarprofessor an der Universität Bern. Im Juni 2003 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin.
Herr Professor Ehrlich, Sie gehören zu den letzten Schülern Leo Baecks. Wann sind Sie dem großen Rabbiner und Gelehrten zum ersten Mal begegnet?
ehrlich: Im Frühjahr 1940. Ich hatte Abitur gemacht und trat ein in die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Vorher hieß sie Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Die Nazis hatten sie als Lehranstalt bezeichnet. Ich hatte Baeck aber vorher schon in der Synagoge Fasanenstraße erlebt. Dort predigte er zu den Feiertagen. Ich hatte also schon einen gewissen Eindruck von ihm, bevor ich auf die Lehranstalt kam.
Welche Vorlesungen und Seminare besuchten Sie bei Leo Baeck?
ehrlich: Er lehrte jüdische Religionsgeschichte, Midrasch und Homiletik, also Predigtkunde. Das war freitags um 8 Uhr, da hielt er eine Übung. Wir Studenten mußten über den Wochenabschnitt predigen, und er hat das dann kritisiert, manchmal recht scharf, aber immer höflich. Wenn einer schlecht war, fing Baeck meistens so an: »Die Predigt zeugte von ernstem Nachdenken.« Und dann kam die Kritik. Die bezog sich meistens darauf, daß der Betreffende, also auch ich manchmal, zuviel in eine Predigt packte und der wesentliche Gedanke nicht herauskam.
Hatte Leo Baeck einen besonderen Stil zu lehren?
ehrlich: Das würde ich nicht sagen. Er war sehr sachlich. Wir haben Texte gelesen, Midrasch-Texte. Baecks besonderer Stil kam eher zum Ausdruck in der Predigtkunde-Übung am Freitagmorgen. Er legte seine Auffassung sowohl über den Text als auch über das, was man da geboten hat, ziemlich klar und kritisch dar, aber doch immer höflich. Er war ohnehin ein ungemein höflicher Mensch.
Welches Verhältnis hatte er zu seinen Schülern?
ehrlich: Wenn man etwas von ihm wollte, war er sehr nett, es herrschte ein guter Ton. Aber er war natürlich immer eine Autorität. Ein Problem war allerdings, daß er fast nie nein sagen konnte, aber sein Ja war nicht immer ein Ja.
Wie war es, mit ihm zu diskutieren, akademischen Streit zu führen?
ehrlich: Das war etwas schwierig, denn er hatte seine festen Vorstellungen. Dagegen anzukommen und eine andere Meinung zu haben, war nicht ganz leicht, vor allem, wenn es sich um etwas handelte, was er seit Jahrzehnten kritisch sah.
Konnte Leo Baeck humorvoll sein?
ehrlich: O ja, das konnte er auch. Aber er war vor allen Dingen sehr sachlich.
Wie trennten sich Ihre Wege in Berlin?
ehrlich: Daran erinnere ich mich sehr genau. Es war im Januar 1943. Da war ich schon illegal in Berlin, trug also keinen Stern, und Baeck verbrachte die letzten Tage in seinem Büro in der Kantstraße. Ich ging zu ihm, um mich zu verabschieden. Ich sagte, ich werde jetzt illegal leben, ich gedenke nicht, mich deportieren zu lassen. Er fand das in Ordnung.
Wann haben Sie sich nach der Schoa wiedergesehen?
ehrlich: Es war 1946. Er hatte mich nach London eingeladen. Das Treffen war sehr herzlich. Es war die erste Tagung der World Union for Progressive Judaism. Leo Baeck war deren Präsident.
Wie hatten ihn die beiden Jahre in Theresienstadt verändert?
ehrlich: Er hatte sich nicht verändert. Er war warm und herzlich.
Erzählte er von Theresienstadt?
ehrlich: Was ich gefragt habe, hat er mir beantwortet. Aber ich fragte nicht allzuviel.
Das Gespräch führte Tobias Kühn.