von Miryam Gümbel
Im Münchner Luitpold-Gymnasium haben am vergangenen Montag die Schüler der Oberstufe bewegt und interessiert zugehört, was Isak Wasserstein ihnen aus der Zeit der Schoa berichtete. Sie waren im Durchschnitt so alt wie der Referent damals, als er das Ghetto von Warschau erleben musste. Von dort wurde er nach Auschwitz deportiert. Er überlebte und wurde schließlich auf dem Todesmarsch aus dem schwäbischen Spaichingen nach Garmisch befreit.
Seit etwa zwei Jahrzehnten geht er immer wieder in Schulen, berichtet den jungen Menschen von dem unvorstellbaren Geschehen – »nicht als Ankläger, sondern als einer, der diese Zeit erlebt hat«, wie er stets betont. Auch wenn seine Biografie der Leitfaden ist, um den herum er die Grausamkeiten des Holocaust schildert, Isak Wasserstein vergisst seine Leidensgenossen und vor allem diejenigen unter ihnen nicht, die die Qualen und Entbehrungen nicht überlebt haben. Betroffene Stille herrscht in den Klassen immer wieder, wenn er von den sogenannten Schmuggelkindern berichtet, die unter Lebensgefahr durch den Ghettozaun schlüpften, um Essen zu organisieren.
Anfang der 90er Jahre sind die Gymnasiasten dem Referenten immer wieder nach dem Vortrag noch hinterher gelaufen, um mit ihm ein paar persönliche Worte zu wechseln. Heute wissen die Schüler mehr, die Fragen werden dadurch verhaltener. Da bleibt dann wie kürzlich beim Besuch Wassersteins im Kloster Ettal häufig nur die stumme Bitte, sein Buch zu signieren. (Ich stand an der Rampe von Auschwitz, Books on Demand, ISBN 3-8311-0653-3).
Dass es Isak Wasserstein darum geht, gegen das Vergessen anzukämpfen, festzuhalten, was während der Schoa war, zeigt, dass er sein Wissen an alle Menschen weitergibt. Er war einer der Ersten, die vor knapp 20 Jahren im IKG-Jugendzentrum den Enkelkindern der Überlebenden von den Grausamkeiten des Lagers berichteten. Ein Kommentar war damals: »Das muss er doch den Gojim erzählen, nicht unseren Kindern.« Dass auch die es wissen wollen, hat sich inzwischen längst bestätigt.
Für Wasserstein war der Vortrag am vergangenen Montag wohl der letzte. Den Zeitzeugen, der in diesem Monat 87 Jahre alt wird, kostet diese Arbeit viel Kraft, körperlich und vor allem seelisch.
Ebenfalls Jahrgang 1920 ist ein anderer Zeitzeuge, der weit über die Grenzen Münchens und Bayerns hinaus bekannt ist: Max Mannheimer. Sein Terminkalender ist nach wie vor voll mit Vorträgen, Interviews und vielem mehr. »Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.« Das ist Mannheimers Appell an die Jugendlichen, denen er seinen Leidensweg erzählt. Damit möglichst viele Menschen die Wahrheit über das erfahren, was unter dem NS-Regime geschehen ist, in Schulen ebenso wie bei Vorträgen im Bereich der Erwachsenenbildung und beim Militär.
Er verbindet die Schilderung der historischen Fakten, die heute weitgehend bekannt sind, mit seinen persönlichen Erlebnissen. Er zeichnet den Weg von The- resienstadt, Auschwitz und den Aufräumarbeiten im zerstörten Warschauer Ghetto bis nach Dachau. Dass dessen Außenlager Mühldorf heute auch ins Bewusststein der Öffentlichkeit gerückt ist, verdankt man nicht zuletzt der kontinuierlichen Aufklärungs- und Zeitzeugenarbeit von Max Mannheimer.
Den provozierenden Spruch der Nazis, wie er auch über dem Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz zu lesen ist, »Arbeit macht frei«, greift Max Mannheimer häufig in seinen Vorträgen auf. Dem verlogenen und sarkastischen Argument, es seien ja nur Arbeitslager gewesen, tritt er ganz entschieden entgegen: »Arbeit war hier bewusste Tötung, war Mord.« Erzwungene Arbeit unter den Bedingungen, wie sie von den KZ-Häftlingen geleistet werden mussten, sei eine Methode zu ihrer Ermordung gewesen.
Als langjähriger Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau findet Max Mannheimer weltweit Gehör. Doch auch er wird nicht jünger, auch wenn seine Ausstrahlung und die fast jugendliche Kraft seines Sendungsbewusstseins ihm Vitalität verleihen. Welche Gedanken hat er sich gemacht, wie die einmalige Grausamkeit und die Schrecken des Holocaust im Gedächtnis der Menschen bleiben können?
Er will weitermachen, solange es irgendwie geht. Antrieb ist seine Hoffnung, die nachfolgenden Generationen für die Demokratie zu stärken. In der vergangenen Woche war er wie jedes Jahr in Unterfranken. Ein Schulleiter dort verabschiedete ihn mit den Worten: »Merken Sie sich bitte schon mal den 27. Januar 2008 vor!«
Das Bayerische Seminar für Politik und das Bayernforum der Friedrich-Ebert-Stiftung haben 2005 in der Reihe »Gespräche mit Zeitzeugen« die Doppel-DVD Dr. h.c. Max Mannheimer herausgebracht (www.baysem.de). Die durch nichts zu ersetzende Wirkung eines Zeitzeugengesprächs ist hier in der Aufzeichnung eines Besuchs Max Mannheimers in der Mädchen-Realschule Heilig-Blut in Erding festgehalten. Ein Blick auf den Privatmann ist auf der zweiten DVD mit Bildern des Zeitzeugen zu bekommen, der sich unter seinem hebräischen Namen Ben Jakov auch als Maler einen Namen gemacht hat.
Zu den noch aktiven Zeitzeugen aus München, die verschiedene Konzentrationslager überlebt haben, gehört auch eine Frau: Marta Rosenwald. Sie ist um ein gutes Jahrzehnt jünger als Max Mannheimer und Isak Wasserstein. Dass die junge Marta Fröhlinger dennoch überlebte, hatte die ungarische Jüdin erst einmal der Tatsache zu verdanken, dass sie 1944 für ihr Alter sehr groß und kräftig war und auch viel Selbstbewusstsein ausstrahlte, als sie mit knapp 15 Jahren den NS-Schergen in die Hände fiel. Diese nahmen ihr die vorgegebenen 17 Jahre ab – vier Jahre Überlebenskampf in verschiedenen Konzentrationslagern folgten.
Die Mahnung zum »Nie wieder« ist für die Zeitzeugin heute ebenso Verpflichtung wie die Erinnerung an ihre ermordete Familie. »Gedenke« steht in Hebräisch auf dem kleinen Anstecker, den sie häufig trägt.
Und zu eben diesem Gedenken will sie auch die Menschen von heute ermutigen, zuletzt bei einem Vortrag im vergangenen Jahr im Offizierscasino der Bundeswehr in Erding. Sie will aufrütteln, dagegen ankämpfen, dass es Menschen gibt, die rechtsextremen Parolen folgen. »Die verhalten sich, als hätte es die Schoa nie gegeben«, empört sie sich, wenn sie in den Medien wieder einmal von Neonazis oder Fremdenfeindlichkeit lesen oder hören muss.
Im Kaufering, wo ihr Leidensweg schließlich endete, war die junge Frau auf 38 Kilo abgemagert. »Ich war leichter als die Zementsäcke, die ich tragen musste«, erzählt sie. An den Folgen der Zeit in den Konzentrationslagern leidet sie auch gesundheitlich bis heute. Sie will an die häufig verdrängte und mitunter sogar geleugnete Wahrheit erinnern, dass in Auschwitz Menschen sofort nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden, wie ihre jüngeren Geschwister und ihre Eltern. Als das junge Mädchen damals nach ihrer Familie fragte, zeigte die Blockälteste auf den KZ-Schornstein und sagte: »Siehst du den Rauch da? Das ist deine Familie.« Marta Rosenwald, heute Mutter von zwei Kindern, Großmutter und Urgroßmutter, sagt heute: »Eine Wolke – meine Mutter war für mich eine weiße Wolke geworden, und von da an immer über mir.«