Memo Anjel

»Im Zentrum steht die Familie«

Herr Anjel, fällt irgendwo das Wort Kolumbien, dann ist oftmals von Gewalt, Bürgerkrieg und Drogen die Rede. In Ihren Romanen hingegen spielt die Gewalt keinerlei Rolle, warum?
anjel: In Kolumbien ist die Gewalt eine Alltagsnotiz. Darüber zu schreiben, bedeutet für mich, ins Anekdotische zu verfallen. Mir gefällt es aber viel besser, über die Menschen zu schreiben, die nicht in diese Falle getappt sind. Wie hat es Michel Foucault definiert: »Eine Art des Widerstands ist es, das Gegenteil von dem zu erzählen, was passiert.« Das ist meine Maxime.

Ihre Heimatstadt Medellín hat vielen Ihrer Kollegen als Vorlage für Romane über Gewalt, Auftragsmorde und Kokainkartelle gedient. Fehlt es an Geschichten aus dem anderen Kolumbien – dem der Menschen, die neue Perspektiven aufbauen, gegen Kriminalität und Straflosigkeit kämpfen?
anjel: Über das, was in Kolumbien passiert, über die verschiedenen Realitäten der Kolumbianer fehlt es definitiv an Geschichten. Es gibt keine Universitätsromane, keine Arbeiterromane, keine Romane über die Jugendlichen, die sich in die Musik verlieben oder über die unzähligen Hausfrauen, die ihre Kinder aufziehen. In Kolumbien gibt es zu viele Schriftsteller, die in die Falle getappt sind, über die Misere, Auftragskiller und Co. zu schreiben statt sich mit den unterschiedlichen Realitäten in unserem Land auseinanderzusetzen.
Welche Bedeutung hat die jüdische Gemeinde von Medellín, die auch in Ihrem neuen Buch »Mindeles Liebe« im Mittelpunkt steht?
anjel: Die Gemeinde ist recht klein, sie besteht aus nur etwa 70 Familien. Aber aus ihnen entstammen eine ganze Reihe von Künstlern und Schriftstellern, wie die Dichterin Esther Fleisacher oder der Maler Benjamín Farbiarz. Aber auch Pianisten und Übersetzer hat die Gemeinde hervorgebracht, und einige Gemeindemitglieder lehren wie ich an der Universität.

Welche Rollen spielen die Lehre und das Schreiben in Ihrem Leben?
anjel: Ich bin Professor für den Lebensunterhalt und Schriftsteller für die Seele.

Schriftsteller mit jüdischer Seele und klarer Perspektive?
anjel: Ja, das stimmt, denn ich versuche, die sefardischen Juden in einen modernen Kontext zu stellen. Für viele sind die Sefarden Juden aus dem Museum oder bestenfalls Touristenführer in Spanien. Was für ein Bild! In meinen Büchern sind die Sefarden Menschen, die einen Alltag haben, lieben und mit vielen Absurditäten zurechtkommen.

Sie haben sich in Medellín lange in der Gemeindearbeit engagiert – nun ist es mehr die Feder, mit der Sie zu Werke gehen, um der kolumbianischen Gesellschaft eine weitgehend unbekannte Minderheit vorzustellen. Werden Sie in Ih- rem Land denn auch gelesen?
anjel: Es ist nicht einfach, ein Schriftsteller in Kolumbien zu sein. Die Verlagshäuser wollen Romane über die Gewalt, aber dem verweigere ich mich. Trotzdem habe ich es geschafft zu publizieren und auch zu verkau- fen. Zwar nicht in großen Auflagen, weil meine Bücher vor allem in Universitätsverlagen erscheinen, aber immerhin sind einige meiner Bücher, Gedichte und Kurzgeschichten sehr gefragt.

In Deutschland sind Sie mit »Das meschuggene Jahr« bekannt geworden. Nun ist »Mindeles Liebe« herausgekommen, beides Bücher über Ihre Familie.
anjel: Ja, im Zentrum meiner Arbeit steht die Familie. »Das meschuggene Jahr« und »Mindeles Liebe« stehen quasi exemplarisch dafür. Aber ich arbeite auch an anderen Themen, so zum Beispiel über die Stadt Berlin, wo ich ein Jahr mit einem Stipendium lebte. Gleichwohl sind die Figuren, die ich bei meiner Arbeit forme, immer sefardische Juden, die mit Aschkenasen interagieren.

Wovon handelt der neue Roman?
anjel: »Mindele« ist Jiddisch und bedeutet Püppchen. Die Person der Mindele habe ich genauso wie die anderen bereits aus »Das meschuggene Jahr« bekannten Figuren aus den Erfahrungen der eigenen Kindheit heraus entwickelt. Mindeles Liebe ist eine Liebesgeschichte in einer jüdischen Welt.

Warum schreiben Sie aus der Perspektive eines 13-Jährigen?
anjel: In der Kindheit baut der Mensch sich sein Weltbild zurecht. Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling hat einmal gesagt: »Gib mir die ersten sieben Jahre eines Menschen, und ich schenke dir den Rest.« In diesem Satz steckt die ganze Wahrheit, denn aus der Perspektive eines Kindes ist die Welt einfach.

Das Gespräch führte Knut Henkel.

memo anjel: mindeles liebe.
ein jüdischer roman aus medellín
Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek
Rotpunkt, Zürich 2009, 197. S., 19,50 €

Kultur

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