albanien

Im Schutz der Besa

Albanien ist das einzige Land Europas, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Juden lebten als vorher. Fast alle der über 3.000 einheimischen und aus anderen Ländern Europas geflohenen Juden überlebten den Holocaust. Doch als das kommunistische Hoxha-Regime 1946 die Grenzen schloss und das Land für 45 Jahre in die Isolation zwang, verschwand die Erinnerung an ihre Rettung im Staatsarchiv. Die Juden, die in Albanien lebten, wurden fortan diskriminiert. Ihre Rettung während der Zeit des Holocaust kollidierte mit der verordneten Feindschaft des kommunistischen Lagers gegenüber Israel als »Handlanger des US-Imperialismus«.
Seit einigen Jahren beschäftigen sich immer mehr Forscher mit der Geschichte des Landes im Zweiten Weltkrieg: Konferenzen werden abgehalten, Bücher erscheinen, die Historiker forschen nach, sammeln Zeitzeugenberichte. Albanien, das lange als Ort der politischen Wirren, der Armut und Blutrache angesehen wurde, steht heute als ein Land der Judenrettung da. Die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat bislang 63 Albaner als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeichnet, ein Ehrentitel für diejenigen, die ihr Leben einsetzten, um Juden zu retten. Für das kleine Land ist die Zahl der »Gerechten« unvergleichlich hoch.
Xhemal Veseli (80) hat diesen Titel zusammen mit seinem Bruder Hamid im Jahr 2004 erhalten. Er lebt heute in der albanischen Hauptstadt Tirana, die sich von einer isolierten Kleinstadt zu einer der dynamischsten und buntesten Metropolen des Balkans entwickelt hat. Bürgermeister Edi Rama, ein Künstler, hat die maroden sozialistischen Plattenbauten bunt angemalt und will Tirana zur farbenfrohesten Hauptstadt der Welt machen. So verschwinden langsam die Wunden des Krieges und der kommunistischen Schreckensherrschaft.

versteck Xhemal war erst 15, als er mit seinem Maulesel aus Tirana loszog, um die jüdische Familie Ben Yosef in seinen Heimatort Kruja zu führen. Tagelang ging es auf versteckten Pfaden durch die schroffen Berge Albaniens, um nicht deutschen Soldaten zu begegnen. In Kruja fanden sie gemeinsam mit den Mandils, einer weiteren jüdischen Flüchtlingsfamilie aus Tirana, tagsüber Unterschlupf in einer nahegelegenen Höhle. Die Nächte verbrachten sie in einem kleinen Zimmer des Elternhauses.
Der schlanke alte Mann mit dem sanften, aber durchdringenden Blick lächelt kurz, als er sich an die damalige Situation erinnert: »Alle Einwohner von Kruja wussten, dass wir Juden verstecken. Die Mandils waren manchmal sehr unruhig. Ich fragte mich, wie die Angst haben können, wo sie doch so sicher bei uns sind! Wir selbst wollten nicht an die Gefahren denken, die uns drohten, wenn die Deutschen sie entdeckt hätten.«

gastrecht Dutzende weiterer albanischer Familien versteckten jüdische Flüchtlinge während des Holocaust. Das immer wieder zitierte Zauberwort in den Erzählungen der albanischen Retter heißt »Besa«, was so viel wie »Ehrenwort« bedeutet. Dieser Begriff besagt, dass in Zeiten der Not jeder die Verantwortung auch für das Leben des anderen übernehmen muss. Die Besa ist Bestandteil des uralten Kanun, des traditionellen Sitten- und Ehrenkodex der muslimischen Albaner, der schließlich auch zur Rettung der jüdischen Flüchtlinge beitrug. »Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast«, heißt es im Kanun.
Im Heimatland von Mutter Teresa, die weltweit als Symbol des Humanismus gilt, kannte man Antisemitismus nicht. In der Vorkriegszeit war Albanien ein sehr isolierter Teil Europas, die rassistische Unkultur weit entfernt. Vier verschiedene Religionsgemeinschaften lebten friedlich miteinander. Es gab eine große religiöse Toleranz, wie es auch heute der Fall ist.
Anfang der 30-er Jahre lebten rund 200 Juden in Albanien. Bis 1945 stieg ihre Zahl auf über 3.000. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern waren die Einreisebestimmungen nicht sehr streng. Juden wurden nicht verraten und oft auch von den Partisanen beschützt. Nur eine einzige jüdische Familie aus dem albanischen Kernland wurde deportiert. Im Kosovo hingegen, das damals zu Albanien gehörte, kam es zu Verfolgungen und zur Deportation von 200 Juden. Dabei spielte auch die Waffen-SS-Division »Skanderbeg« eine Rolle, der überwiegend Kosovaren angehörten.
Für die Organisatoren der »Endlösung« um Adolf Eichmann waren die über alle Städte und Dörfer Albaniens verstreuten Gruppen von Juden eine quantité négligeable. Sie zusammenzutreiben in einem Land ohne Straßen und Eisenbahn, gegen eine renitente Bevölkerung, unter ständiger Partisanenbedrohung – unmöglich. Das wilde Land mit seiner nichtslawischen und somit »rassisch höherwertigen« Bevölkerung sollte ein freundlicher Ruheraum für die deutschen Wehrmachtstruppen sein. Unter seiner Marionettenregierung genoss das Land »relative Souveränität«.
»Wir hatten keine Angst vor den Deutschen. Die haben uns auf der Straße nie aufgehalten. Wir haben sogar unsere jüdischen Namen behalten«, erzählt Solomon Jakoel (75), der im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie von Ioannina in Nordgriechenland nach Albanien flüchtete. Sie fanden Zuflucht in der Hafenstadt Vlora, wo es schon vor dem Krieg eine starke jüdische Gemeinde gab, die enge Verbindungen zu den Juden Ioanninas unterhielt. Solomon, der heute wieder in Griechenland lebt, erinnert sich an das Verhalten der Albaner: »Ist es möglich, dass die Deutschen nicht wussten, dass wir Juden waren? Sie wussten es. Aber die Behörden und die Einheimischen haben keine Namen genannt und es nicht zugelassen, dass Juden verfolgt oder deportiert wurden.«
Ganz untätig waren die Besatzer dennoch nicht. Bereits von den italienischen Verbündeten verlangten die Deutschen immer wieder Namenslisten für Deportationen. Ebenso später von der albanischen Kollaborationsregierung. Die Italiener zeigten sich desinteressiert, die Albaner weigerten sich schlichtweg und forderten sogar das Recht ihrer Freilassung für den Fall, dass Juden von Deutschen verhaftet werden sollten. Hätten die Albaner die Juden des Landes und die jüdischen Flüchtlinge verraten, wären diese verloren gewesen. Angesichts ihrer Probleme bestanden die Deutschen schließlich nicht gewaltsam auf diesen Namenslisten, und so reichte der Schutz der Besa. Und der Schutz der Partisanen, die die ankommenden Flüchtlinge verteilten und ihnen oftmals eine Unterkunft beschafften.

weltdiplomatie Albanien wurde von den erstaunten Zeitgenossen als »Land ohne Antisemitismus« wahrgenommen. Der US-Botschafter in Tirana, Herman Bernstein, kabelte diese Sensation Anfang der 30-er Jahre aufgeregt nach Washington. Auch beim Völkerbund in Genf wurde man hellhörig. »Es war die Zeit, als die Weltdiplomatie Albanien für die Juden als Ersatzheimat betrachtete. Ständig ging die Rede von der Besiedlung des Landes mit Juden«, beschreibt Shaban Sinani, einer der führenden Historiker in Tirana und ehemaliger Direktor des albanischen Staatsarchivs, die damalige Stimmung. So weit kam es zwar nicht, doch steigerten die Diskussionen die Attraktivität des Landes als Fluchtziel. Selbst Albert Einstein soll sich inkognito in Albanien umgeschaut haben.
Hinter der Rettung der Juden stand weit mehr als nur die legendäre Besa des Kanuns der Berge. Eher könnte man die Besa als nationalsymbolische Umschreibung eines aktiven Humanismus und eines intakten sozialen Schutzschilds sehen, das von den kommunistischen Partisanen bis zur Kollaborationsregierung, von den Bergbauern bis zur städtischen Intelligenz reichte.

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