Purim weist eine Fülle von Widersprüchen auf, die die Vorstellungskraft von Gelehrten und Laien gleichermaßen beflügeln. Vielleicht das größte Rätsel von allen aber steckt in der Tradition dieses Festes, sich so lange dem Trinken hinzugeben, bis man jedes Urteilsvermögen verloren hat. Wieso, so fragten sich seit Generationen die Exegeten, werden wir aufgefordert, genau jenen Rausch herbeizuführen, den Heilige Schrift und Talmud ohne Wenn und Aber verwerfen? Wieso sollen wir so viel trinken, bis wir kein Urteilsvermögen mehr haben, also nicht mehr zwischen Mordechai und Haman unterscheiden können?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Was die Halacha betrifft, sind sich die rabbinischen Autoritäten einig, dass eine wortwörtliche Erfüllung dieser Forderung nicht von jedem verlangt wird. Sie ist auf jene beschränkt, die in der Lage sind, sich zu betrinken, ohne sich daneben zu benehmen. Wichtig ist, dass sie ebenfalls nicht die Fähigkeit verlieren, die anderen mit dem großen Purimmahl verbundenen Mizwot (zum Beispiel das rituelle Händewaschen und die Segenssprüche) zu verrichten.
Bei den meisten Menschen genügt es vollkommen, dass sie mehr als ihr gewöhnliches Quantum trinken, um durch ein alkoholbedingtes Nachmittagsschläfchen jene Ebene geistiger Unschärfe zu erreichen, von der im Talmud die Rede ist. Das hilft uns allerdings nicht bei unserem Ausgangsproblem. Warum wird exzessives Trinken überhaupt begünstigt, warum ein Ziel von solch undurchsichtiger Natur vorgegeben?
Antworten erhalten wir selbstredend durch die Analyse der Purimerzählung, wie sie in der Megillat Esther niedergeschrieben ist. Die Ereignisse, die in diesem von Gott inspirierten Dokument aufgezeichnet sind, erstrecken sich über ein Jahrzehnt der Geschichte, vom großen Festessen, bei dem Königin Waschti ihren Untergang findet, bis zur wundersamen Wende, bei der das von Völkermord bedrohte jüdische Volk seine Feinde besiegt.
Aus der Perspektive von Historikern und Politologen ist es praktisch unmöglich, zwischen Ereignissen, die durch so viele Jahre und politische Entwicklungen getrennt sind, einen Zusammenhang herzustellen. Was auch sollte der häusliche Streit zwischen Waschti und Achaschwerosch im dritten Jahr seiner Königsherrschaft mit der Tatsache zu tun haben, dass sich der gleiche König im zwölften Jahr seiner Herrschaft den Forderungen Esthers beugt?
Ganze Kapitel, wenn nicht gar Bände könnte man über Hamans rasanten Aufstieg zur Macht verfassen. Zum Beispiel darüber, wie die geopolitischen Umbrüche innerhalb des mächtigen persischen Reichs sich auf den Entscheidungsprozess eines wankelmütigen Monarchen auswirkten, der einem Völkermord zuerst zustimmt und ihn dann ablehnt. Aber Historiker können nur greifbare Verkettungen behandeln. Der göttliche Autor der Geschichte hingegen offenbart seinem auserwählten Volk in der Megillat Esther, dass es eine machtvolle Verbindung gibt zwischen so lange auseinander liegenden Ereignissen.
Entscheidend für diesen Zusammenhang ist Wein. Es ist der Wein, der einen König dazu brachte, betrunken gegen eine rebellische Königin zu wüten. Und es ist der Wein, den eine andere Königin, die ihre jüdische Identität verbarg, sowohl ihrem Ehemann als auch dem Feind am Höhepunkt der Erzählung einschenkte. Das geschah beim Festessen, als sie mit Erfolg um die Rettung ihres Volkes flehte.
Wenn Wein das Verbindende ist, dann muss es Wein sein, den wir über unsere Gewohnheit hinaus genießen, damit wir uns erinnern und nachdenken über den unsichtbaren Faden, der diese Ereignisse zu einem Teppich der göttlichen Einmischung verwebt. Und wir müssen eine Ebene des Rausches erreichen, auf der das übliche Verfahren des Urteilsvermögens nicht gilt, wo die Logik von Gesellschafts- und Politikwissenschaftlern aufhört und wir die göttliche Hand im Wirken der Geschichte zu erkennen suchen. Bis man nicht mehr zwischen »Verdammt sei Haman« und »Gesegnet sei Mordechai« unterscheiden kann.
Viele Deutungen wurden aufgeboten, warum gerade dieses Kriterium gewählt wurde, um den angestrebten Grad der Betrunkenheit zu bestimmen. Im schlichtesten Verständnis ist es der Verweis auf ein Loblied, das wir nach der Lesung der Megilla singen und beim Festessen wiederholen. Und für den Trinkenden ist es eine reizvolle Aufgabe, angeheitert, wie er ist, die Verse nicht durcheinanderzubringen.
In einem tieferen Sinne jedoch bedeutet die Stelle, dass es zwei Ebenen der Danksagung gibt, wenn ein Mann oder eine Frau durch göttliche Einmischung vor dem Verderben gerettet wird. Eine davon ist Dank, die andere ist Lobpreisung. Die intuitive Reaktion des Überlebenden ist, dem Himmel zu danken. Doch würde er gefragt, ob es ihm lieber gewesen wäre, der Gefahr erst gar nicht ausgesetzt zu werden, gäbe er mit Sicherheit zur Antwort: Ja! Am liebsten würde er die Sache ganz vergessen, als hätte sie nie existiert. Erst nach ernsthaften Überlegungen erkennt er, dass die überstandene Gefahr ein Geschenk des Himmels war, die ihn aufgerüttelt und ihm eine neue Richtung gewiesen hat. Das ist dann der Zeitpunkt, wo er HaSchem lobpreist, weil Er ihm ein solches Lernerlebnis ermöglicht hat.
»Verdammt sei Haman« bezieht sich auf die Gefahr, »Gesegnet sei Mordechai« auf die Rettung. Wer genug Wein getrunken hat, um alle Ereignisse in unserer Megilla zu verknüpfen, unterscheidet nicht mehr zwischen dem Wert von beidem.