von Milosz Matuschek
Eigentlich hätte nie jemand vom Holocaust erfahren sollen. Dafür hatten die Nationalsozialisten gründlich gesorgt. Es gab nie einen schriftlichen Führerbefehl zur Vernichtung der Juden, und die Mitglieder der »Sonderkommandos« wurden in regelmäßigen Abständen selbst umgebracht. Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte sollte ohne Zeugen bleiben. Die Erinnerung an die Schoa wollte man, schon während sie geschah, auslöschen. »Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden«, verkündete Heinrich Himmler in einer Rede vor SS-Offizieren im Jahre 1943, als er auf die Ausrottung der Juden zu sprechen kam. Die systematische Judenvernichtung ist Geschichte. Der Versuch, die Schoa aus der nunmehr kollektiven Erinnerung zu verbannen, hat Bestand.
Das Leugnen des Holocaust ist ein weltweites Phänomen. Rechtsradikale und Antisemiten bedienen sich dieser Taktik, um das Schuldgefühl der Täter zu beseitigen, radikale Inhalte wieder salonfähig zu machen und, im Falle des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, politisch verwertbare Hassgefühle gegen Israel zu schüren. Das Leugnen hat Metho- de, es folgt einem ausgeklügelten Schema und macht auch vor perfiden Methoden nicht halt. Robert Faurisson, ein notorischer Antisemit aus Frankreich, »argumentierte«, die Überlebenden hätten ja nicht überlebt, wenn es tatsächlich Gaskammern gegeben hätte. Es ist diese Art von paradoxem Diskurs, der in die Öffentlichkeit getragen werden soll. Man müsse doch über alles sprechen dürfen, lautet das liberale Dogma der Redefreiheit. Hat nicht alles seine zwei Seiten? Deborah Lipstadt, die über den Revisionisten David Irving vor einem englischen Gericht in einer Beleidigungsklage triumphierte – das Gericht stellte fest, dass Irving als Antisemit und Holocaustleugner bezeichnet werden darf –, sah im vulgären Realitätsskeptizismus der Postmoderne das fruchtbare Klima für Leugner.
Die Behauptung, dass es den Holocaust nicht gegeben hat, ist absurd. Warum also sollte man absurde Ansichten nicht zulassen? Hat nicht auch der Dumme das Recht auf eine Meinung? Zahlreiche Länder, unter anderem Israel, Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Österreich und die Schweiz verbieten das Leugnen der Schoa mit dem schärfsten Schwert des Staates: dem Strafrecht. Der Gedanke, die Erinnerung an den Judenmord strafrechtlich zu konservieren, kam Anfang der 90er-Jahre nicht zufällig auf. Es nahte die Gewissheit, dass der Holocaust bald »Geschichte« werden könnte, wenn die letzten Zeitzeugen erst gestorben sind. Die Vernichtung der europäischen Juden wäre dann nur noch ein historisches Ereignis und nicht mehr Gegenstand kommunikativen Handelns und Erinnerns. »Geschichte fängt dort an, wo nicht mehr erinnert wird, wo das soziale Gedächtnis sich auflöst«, befand der französische Soziologe Maurice Halbwachs, der 1945 in Buchenwald von den Nazis ermordet wurde. Dieses Drängen auf ein antizipiertes Ende des Erinnerns kam in der Überschrift des Artikels von Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Ausdruck, mit dem er vor 20 Jahren den Historikerstreit auslöste: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«.
Was Menschen in 100 oder 200 Jahren unter dem Holocaust verstehen werden, kann niemand sagen. Die Erinnerung da-ran ist heute wie ein zartes Pflänzchen, das Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt ist. Der Zahn der Zeit nagt an ihr. Offizielle Gedenktage, wie der zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, werden vor lauter Faschingsnarretei gerne mal vergessen. Das In-Abredestellen der Existenz des Holocaust leistet ein Übriges, dass sich schlichte Gemüter schon jetzt die epistemologische Frage stellen: Wie können wir sicher wissen, ob es die Schoa tatsächlich gegeben hat?
Strafrechtliche Erinnerungsgesetze sollen diese Dekonstruktion der Erinnerung verhindern. Sie sollen für künftige Generationen die Schoa als abwägungsfeste Tatsache sichern. Denn mit jeder neuen Generation schwindet zwangsläufig die Sensibilität für das Geschehen, so wie sie jetzt schon in Ländern wie England oder den USA, die beide ein Verbot der Holocaustleugnung nicht kennen, eher schwach ausgeprägt ist. Erinnerungskultur ist eine kollektive Aufgabe. Erinnerungsgesetze nor- mieren das gesamtgesellschaftliche Postulat, niemals zu vergessen. Sie konservieren die Erinnerung für alle, indem sie die Existenz des Holocaust außer Frage stellen. Als Sondergesetze für Juden sollten sie daher nicht gesehen werden, auch wenn dies einige jüdische Gemeinden (zum Beispiel in Italien) befürchten.
Der Straftatbestand der Volksverhetzung (Paragraf 130 Absatz 3 StGB) ist eine Reibefläche für die liberalen Traditionen des modernen Strafrechts. Die Vorschrift soll den »öffentlichen Frieden« schützen – ein gegenüber dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit oder dem Eigentum eher unbestimmtes und daher angreifbares Rechtsgut. Der Staat bedarf nach traditioneller Sicht stets einer Limitation, er darf nicht jedes Verhalten bestrafen, sondern muss dafür eine Befugnis ausweisen, eben in Form eines Rechtsgutes. In allen Strafrechtsordnungen rankt sich die Diskussion daher um die Frage: Wann darf der Staat legitimerweise strafen?
Das Strafrecht hat sich in nahezu allen Rechtsordnungen jedoch nicht an die Zügel des Liberalismus nehmen lassen. Es ist immer zugleich auch Ausdruck einer sozialen Missbilligung geblieben. Die Bekenntnisbeschimpfung, das Inzestverbot und das Verbot exhibitionistischer Betätigung sind Beispiele für Handlungen, die in vielen Län- dern verboten sind, weil sie tief verwurzel- ten gesellschaftlichen Vorstellungen zuwiderlaufen und gemeinhin als unerträglich empfunden werden. Letztlich steht hinter zahlreichen strafrechtlichen Wertentscheidungen nur allzu Menschliches: ein Gefühl.
Sind Verbote also auch ein Zeichen von Schwäche? In Deutschland wäre es schwer vorstellbar, ein in den Stein des Gesetzes gemeißeltes Schuldbekenntnis als Schwäche auszulegen. England und gerade die USA kannten und kennen genug Beispiele für Moralgesetze (wie das Verbot bestimmter Sexualpraktiken) und gesetzlichen Paternalismus, die ebenfalls nicht von Stärke zeugen, stellen aber eine nahezu zügellose Meinungsfreiheit als Goldenes Kalb in die Mitte der Gesellschaft. Große Denker wie der liberale John Stuart Mill müssen heute als Geisel der Holocaustleugner dafür herhalten, dass auf seinem »Marktplatz der Ideen« auch verfaulte Scheindiskurse feilgeboten werden. Und was den Sprachwissenschaftler Noam Chomsky dazu trieb, das Vorwort zu einem Buch des Antisemiten Robert Faurisson zu schreiben und diesen als »apolitischen Liberalen« zu bezeichnen, bleibt in den Untiefen eines verque- ren Verständnisses von Liberalismus verborgen. Die Stärke des Liberalismus wird so schnell zur Schwäche. Denn Beliebigkeit und Laissez-faire haben stets auch einen autodestruktiven Einschlag. Was aber, bitte schön, spricht dagegen, dem Missbrauch der Meinungsfreiheit dort entgegenzutreten, wo diese dafür verwendet wird, die Meinungsfreiheit selbst »abzuwickeln«?
Selbstverständlich stehen Verbote immer unter einem kulturellen Vorbehalt. Dieser spiegelt sich auch in Gerichtsverhandlungen wider und macht diese für Prozesse über historische Tatsachen geeigneter oder weniger geeignet. So ist in den USA ein Gerichtsverfahren stets ein offenes Spiel um alle Tatsachen, auch die historisch offensichtlichsten, das gewonnen oder verloren werden kann. Es verwundert deshalb nicht, dass der Historiker Raul Hilberg (Die Vernichtung der europäischen Juden) geschichtliche Verbote stets abgelehnt hat. In Kanada und Frankreich ist das Prozessrecht ähnlich organisiert. In Deutschland hingegen gilt der Holocaust als »gerichtsnotorische Tatsache«. Der Richter darf (und kann) den Historiker nicht ersetzen.
Wie viel Skepsis angebracht ist, wenn Geschichte gesetzlich festgeschrieben wird, lässt sich zur Zeit in Europa beobachten. So gibt es in Frankreich neben dem Verbot der Holocaustleugnung auch äußerst zweifelhafte »lois mémorielles«, Erinnerungsgesetze. Sie verpflichten Schulen und Universitäten dazu, einseitig auf die positive Rolle Frankreichs bei der Kolonialisierung Afrikas hinzuweisen. Polen kennt eine Vorschrift, die Aussagen über die Verstrickung des Landes in nationalsozialistische oder stalinistische Verbrechen als »Beleidigung der Nation« bestraft, was vor Kurzem zu Ermittlungen gegen den Historiker Jan Tomasz Gross führte, der ein Buch über den Antisemitismus in Polen geschrieben hatte.
Traurige Berühmtheit hat auch ein Paragraf des türkischen Strafgesetzbuches erlangt, der es verbietet, über den Genozid der Türken an den Armeniern zu sprechen. Historische Unwahrheit wird hier juristisch geschützt. Es darf aber um der Redlichkeit willen verlangt werden, dass zwischen Wahrheitsschutz und Lügenschutz, zwischen echten und unechten Erinnerungsgesetzen und damit zwischen Erinnerungskultur und Realitätsflucht unterschieden wird. Dies tut im Übrigen das Bundesverfassungsgericht, wenn es unwahre Tatsachenbehauptungen wie die Leugnung des Holocaust gar nicht erst unter die Meinungsfreiheit fallen lässt. Damit folgt das höchste deutsche Gericht der Feststellung Hannah Arendts, die es ähnlich ausdrückte: »Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, ist eine der Formen der Lüge.«
Die EU plant seit 2001, die Leugnung des Holocaust europaweit unter Strafe zu stellen. In der ersten Hälfte dieses Jahres könnte es soweit sein, nachdem 2007 eine politische Einigung unter deutscher Ratspräsidentschaft zustande gekommen war. Eine originäre Kompetenz für das Strafrecht fehlt der EU. Sie muss daher auf das Einverständnis aller Staaten setzen, was aufgrund kultureller Unterschiede nicht ohne Abstriche zu erwarten ist. Das Strafrecht hat, was der EU bislang fehlt: eine starke identitätsstiftende Wirkung. Es wäre vielleicht zu viel, die Schoa als Teil der kulturellen Identität Europas zu betrachten. Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen ist es jedoch. Sie ist es wert, geschützt zu werden.
Der Autor ist Jurist und promoviert derzeit über das Verbot der Holocaustleugnung.