von Christine Schmitt
Als ein Enkelkind sie nach ihren Erfahrungen in der Schoa fragte, bemerkte die 70jährige, daß sie erhebliche Gedächtnislücken hatte. Ratlos wandte sie sich an mehrere Ärzte, die ihr aber nicht helfen konnten. Sie spürte, daß sie jetzt Hilfe brauchte, um ihre Lebensgeschichte zu begreifen. Denn bis dahin hatte sie niemals über ihre Vergangenheit gesprochen, sondern immer versucht, sie zu vergessen: Ihr Mann, ihr kleiner Sohn, ihre Mutter und drei Geschwister waren in Auschwitz ums Leben gekommen. Hilflos wandte sie sich an die Organisation Amcha und begann eine Therapie. Erst kurz vor Abschluß der Behandlung konnte sie ihrer heutigen Familie – die Frau war nach dem Krieg nach Palästina ausgewandert und hatte wieder geheiratet – von ihren Erlebnissen erzählen. Ein Teil ihrer verlorenen Erinnerungen war zurückgekehrt.
Die 70jährige ist eine von etwa 8.000 traumatisierten Schoa-Überlebenden, die von Amcha in Israel betreut werden. Leider sei die Summe der Spendengelder in den vergangenen Jahren zurückgegangen, sagt Peter Fischer, Vorsitzender von Amcha Deutschland. Betrug das Spendenvolumen 1998 noch mehr als 200.000 Mark, konnte Amcha Deutschland im Jahr 2004 nur noch 40.000 bis 50.000 Euro nach Israel überweisen. »Die Zahl der Spender nimmt aus demographischen Gründen ab, und Firmen haben in letzter Zeit gar nichts mehr auf das Amcha-Konto überwiesen«, bedauert Peter Fischer.
Holocaust-Überlebende und Psychologen hatten 1987 in Israel die Organisation Amcha gegründet, um Überlebenden zu helfen, die an den Spätfolgen der Naziverfolgung leiden. Mit dem Wort Amcha (hebräisch: dein Volk) hatten sich Juden während der Schoa untereinander begrüßt. »Es war ein Erkennungswort unter jüdischen Verfolgten«, sagt Dorothea Strube, Geschäftsführerin von Amcha Deutschland.
Nach Schätzungen leiden in Israel heute etwa 240.000 Schoa-Überlebende unter den Spätschäden der Naziverfolgung. Mehr als ein Drittel von ihnen war damals noch Kind. Mehr als 20 Prozent aller Überlebenden leiden unter Alpträumen, Einsamkeit, Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen. In Einzelfällen können die Spätschäden lange unerkannt geblieben sein und kommen erst dann zutage, wenn menschlicher Halt verlorengeht, beispielsweise wenn die Kinder aus dem Haus gehen oder wenn der Partner stirbt, sagt Peter Fischer. Auch die zweite und dritte Generation, die Kinder und Enkelkinder der Überlebenden, werden in Israel von Amcha betreut. Jeder vierte Patient der Hilfsorganisation gehört dieser Gruppe an. Auch sie sind betroffen von dem, was ihre Eltern erlebten.
Heute gibt es in Israel zehn Amcha-Zentren, in denen Einzel-, Familien- und Gruppentherapien sowie Beratungen angeboten werden. Die Mitarbeiter kommen auch zu den Überlebenden nach Hause, ins Krankenhaus oder ins Altersheim. Ebenso gibt es psychologische Betreuung am Telefon. Die Amcha-Klubs sind für viele zu einem zweiten Zuhause geworden. Hier darf man anderen die eintätowierten Nummern auf den Armen zeigen und weinen, ohne sich schämen zu müssen. Hier trifft man sich zu Literatur-, Kunst- und Gymnastikkursen. Außerdem geht Amcha mit Überlebenden auch an Schulen, um dort an die Schoa zu erinnern. »Amcha bietet Geborgenheit und eine verständnisvolle Atmosphäre, in der die Betroffenen über ihr Schicksal reden können«, sagt Dorothea Strube. Sie gewännen zum Teil zum ersten Mal das Gefühl, verstanden zu werden. Die therapeutische Behandlung helfe, den oft verdrängten, aber immer gefühlten Schmerz ans Licht zu bringen und die demütigenden und quälenden Erfahrungen zu akzeptieren.
Rund 150 Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater sind für Amcha im Einsatz. Zudem gibt es 500 Freiwillige. Weil Amcha keine staatliche Organisation ist, trägt das israelische Gesundheitsministerium nur einen geringen Teil seiner Aufwendungen. Die Hälfte des Etats wird mit Spenden abgedeckt. Und die Klienten müssen sich mit einer Selbstkostenpauschale an der Arbeit der Organisation beteiligen.
Eine Beratung von Überlebenden in Deutschland durch Amcha findet nicht statt. »Wenn sich jemand mit der Bitte um psychologische Hilfe an uns wendet, was häufig der Fall ist, versorgen wir ihn mit entsprechenden Adressen«, sagt Dorothea Strube.
Amcha hat neben der Mutterorganisation in Israel noch Freundeskreise in Österreich, der Schweiz, Holland, Nordamerika und Belgien. Amcha Deutschland besteht seit 1990. »Die Gründung der Stiftung ist die einzige Wiedergutmachung der DDR«, sagt Peter Fischer. Dank seiner guten Kontakte zur Modrow-Regierung gelang es ihm, den Ministerrat der DDR zu überzeugen, ein Stiftungskapital von 6,2 Millionen Mark bereitzustellen. Allerdings dauerte es noch fünf Jahre, bis der »Stiftung in Gründung« die besondere Gemeinnützigkeit zuerkannt wurde. Erst danach wurde der Förderverein gegründet, der die Öffentlichkeit informiert und Spenden sammelt. Das Schicksal seiner Mutter, die als einzige in ihrer Familie die Schoa überlebte, hatte ihn bewogen, sich für diese Hilfsorganisation zu engagieren, so Fischer.
Fast gleichzeitig, Ende der 80er Jahre, entstand auch in Bonn ein Amcha-Freundeskreis. Mit dabei waren Politiker wie Hans-Jochen Vogel, Renate Schmidt und Rita Süssmuth. »Wir können das Geschehene nicht aus der Welt schaffen, aber wir können uns für die Opfer und Überlebenden tatkräftig einsetzen«, sagte die frühere Bundestagspräsidentin Süssmuth.
www.amcha.de
Spendenkonto-Nummer: 79 55 50,
BLZ 100 602 37, EDG-Filiale Berlin