von Zlatan Alihodzic
»Ein Haus ohne Bücher ist wie ein Zimmer ohne Fenster«, sagt Liliana Ruth Feierstein von der amerikanischen Hilfsorganisation Joint. Als wolle sie zustimmen, strahlt am vergangenen Sonntag die Sonne durch die großen Scheiben in den Festsaal der Jüdischen Gemeinde Duisburg. Sie scheint auf dicke Wälzer und dünne Heftchen, wissenschaftliche Abhandlungen und spannende Romane, konservierte Dokumente und Bildbände.
Zum »Fest des jüdischen Buches« kommen viele Menschen, die diese literarischen Fenster öffnen wollen. Und auch ihre Verfasser kommen, um ihre Geschichten wachsen zu sehen, wenn sich andere –zuhörend –auf sie einlassen. »Jeder ist ein Schreiber«, zitiert Liliana Ruth
Feierstein, die Organisatorin des Buchfestes, aus der Tora. »Denn das Wasser sei Tinte, der Himmel Pergament und jeder Baum eine Feder.«
»Es war alles ein bißchen kleiner gedacht, mit zwei oder drei Lesungen und einem Büchermarkt«, erklärt Michael Rubinstein, Geschäftsführer der Gemeinde. Gemeinsam mit dem Joint entwickelten die Duisburger aus der anfänglichen Idee schon bald eine Großveranstaltung mit Autoren, Rabbinern und Wissenschaftlern. Die jüngste Vertreterin, Lena Gorelik, ist 25 Jahre alt, der älteste, Edgar Hilsenrath, bald 80. Auf deutsch diskutiert man über einen französischen Roman, auf russisch werden die talmudischen Gesetze erläutert, und ein österreichischer Schriftsteller erzählt eine Geschichte aus Tschechien. Die Autoren der Werke schauen aus ihren Bücherfenstern heraus, die Zuhörer gerne in die literarischen Zimmer hinein.
»Laut Satzung sind wir für die soziale, religiöse und kulturelle Betreuung unserer Mitglieder verantwortlich«, sagt Michael Rubinstein. Doch selbst er ist mit der trockenen Begründung, warum die Gemeinde das Fest des Buches braucht, sichtlich un-zufrieden. In seiner Eröffnungsrede erzählt er von einer Ausstellung, die Teile des Archivs aus dem Warschauer Ghetto zeigt. Dort gründeten die Juden ein Theater, schufen Kultur, wollten ihr Leben lebenswert gestalten. »Dieses Archiv ist ein Beispiel dafür, wie das jüdische Volk 5766 Jahre überlebt hat. Wir sind das Volk des Buches, das Volk der Schrift«, ruft Rubinstein jetzt geradezu enthusiastisch.
Als erste Autorin des Tages nimmt Elisa Klapheck ihr Buch in die Hand und liest. So lang die Geschichte des jüdischen Volkes auch ist, was diese Frau erreicht hat, stellt immer noch eine Seltenheit dar. Sie ist Rabbinerin – eine von dreien in Deutschland. Eine Erbin Regina Jonas’, die als erste Frau in Deutschland 1935 ordiniert wurde und deren Streitschrift Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden? Klapheck vor einigen Jahren mit einem eigenen Kommentar veröffentlicht hat. Zur Zeit betreut Klapheck Gemeinden in Amsterdam und Frankfurt am Main.
»Ich kann mir vorstellen, daß es in anderen Gemeinden nicht einfach gewesen wäre, eine Frau Rabbiner so eine Veranstaltung eröffnen zu lassen«, meint Michael Rubinstein später. »Es ist tatsächlich eine Anerkennung für mich«, erwidert Klapheck. Sie liest aus ihrer Autobiographie So bin ich Rabbinerin geworden. Es schließt mit der Ordinierung, einem Happy-End. Neben zahlreichen Frauen hören auch die Männer inte- ressiert zu, selbst Rabbiner, wenn auch manchmal der Frau in ihrem Amt gegenüber etwas skeptisch eingestellt. Doch beim »Fest des jüdischen Buches« genießt Klapheck die spürbare Anerkennung.
Parallel zu den Lesungen finden im Gemeindehaus Workshops statt, Gruppen lernen zusammen. Wissenschaftliche und technische Vorschriften der Religionsausübung, moderne jüdische Literatur und Gedanken zur Liturgie stehen zur Auswahl. Als Edgar Hilsenrath erscheint, wird das Rahmenprogramm unterbrochen, die Zuhörer drängen in den Festsaal. Sie sitzen still auf ihren Plätzen, noch bevor der Autor den Raum betreten hat. Mit dem ersten langsamen Schritt über die Türschwelle hat der 80jährige das Publikum in seinen Bann gezogen. Fast stimmlos flüstert er den Text der ersten Seiten seines Romans Nacht ins Mikrophon. Düstere Bilder aus einem rumänischen Ghetto. Protagonist Ranek betritt die graue Szenerie der abgeschlossenen Stadt. Er freut sich über den Zigarettenstummel, den ihm ein Toter hinterlassen hat, und versucht, den Tag ohne Schaden zu überstehen, was ihm eine schicksalhafte Begegnung erschweren wird.
Die Frauen im Gemeindesaal blicken ins Leere, sie nicken ab und zu. Die Männer streichen über ihre Wangen und ziehen die Schultern vor imaginärer Kälte hoch – Bedrückung macht sich breit.
Bald übernimmt Hilsenraths Verleger Helmut Braun das Buch, liest weiter, bis der Autor wieder selbst liest und die letzten Sätze des Kapitels vorträgt. Er endet, sieht auf, wartet einige Sekunden und lacht leise. Aus dem alten Mann sprüht kindlicher Witz. Er freut sich über die Wirkung seines Buches. Erst als sich sein Verleger für die Aufmerksamkeit des Publikums bedankt, setzt der Beifall ein, fällt der Ballast des Erzählten von den Menschen ab. Hilsenrath hat sein Fenster weit geöffnet.