von Matthias B. Krause
Irgend etwas war falsch an dieser kalt-feuchten Oktobernacht in Brooklyns Stadtteil Fort Greene. Stimmt. In den Straßen standen dicht an dicht merkwürdig antiquarische Autos aus den sechziger und siebziger Jahren. An den Bäumen verkündeten gelbe Zettel, daß hier ein Film gedreht würde, ein nichtssagender Titel, eine unbekannte Produktionsfirma. Zwei Monate später löste ein Kinobesuch das Rätsel. Die Szenen, in denen sich Steven Spielbergs Filmheld Avner Kauffmann, Anfüh- rer eines von der israelischen Regierung auf die Spur der Attentäter von München 1972 geschickten Exekutionskommandos, schließlich ins Private zurückzieht, spielen in Fort Green. Nur der Titel auf den Zetteln an den Bäumen und der Name der Produktionsfirma waren reine Fiktion.
Die Geheimniskrämerei hatte Methode. Schon bevor Spielberg im Juni vergangenen Jahres mit dem Dreh begann, umschwirrten Gerüchte und Konflikte das 70-Millionen-Dollar-Projekt. Spielberg, selbst Jude und spätestens seit Schindlers Liste untrennbar mit der filmischen Aufarbeitung der Schoa verbunden, sei zu israel-freundlich, um einen guten Streifen über den Konflikt im Nahen Osten zu drehen, hieß es. Der Macher von Der Weiße Hai, E.T. und Jäger des verlorenen Schatzes sei zu oberflächlich für solch ein brisantes und politisches Thema, grummelten die anderen. Überhaupt sei das kein Hollywood-Stoff.
Doch Spielberg, geboren 1946 in Cincinnati war noch nie einer, der sich von der Meinung anderer zu sehr beirren ließ. Oder gar aufhalten. »Nein ist ein Wort, das Steven einfach nicht akzeptiert hat. Schon als Elfjähriger nicht«, erinnerte sich seine Mutter einst in einem Interview. Der junge Spielberg, Sohn eines Computerspezialisten und einer Konzertpianistin, zog oft um mit seiner Familie. Nie blieb er lange genug, um Freundschaften zu schließen. Also beschäftigte Steven seine Phantasie und erfand Geschichten. Sein größter Spaß war, seine drei jüngeren Schwestern mit Gutenachtgeschichten so zu ängstigen, daß sie danach kein Auge zumachten. »Ich war ein regelrechter Bruder Grimm«, vertraute er mal dem Magazin Spiegel an.
Früh entdeckte er seine Faszination für die familieneigene Super-8-Kamera. Weil sein Vater ihm verbot, dauernd die Züge seiner Modelleisenbahn aufeinanderkrachen zu lassen, filmte Sohnemann den Unfall. So konnte er sich wieder und wieder an dem schönen Effekt erfreuen, ohne Ärger zu bekommen. Bald spannte er die ganze Familie ein für seine Filmprojekte, alles mußte nach seiner Pfeife tanzen. Am Wochenende drehte er, und montags schrieb ihm seine Mutter Entschuldigungszettel, damit er das Material schneiden konnte. Spielberg entdeckte damals den Film auch als machtvolles Werkzeug.
In Phoenix im Bundesstaat Arizona, wo er die meiste Zeit seiner späteren Kindheit verbrachte, war er ein Einzelgänger, einer der wenigen Juden unter Christen. Seine Familie war nicht strenggläubig, mit den Regeln des koscheren Essens nahm sie es nicht so genau. Als einmal der Rabbiner unangemeldet zu Besuch kommt, mußte Spielberg junior die noch lebenden Hummer unter dem Bett in seinem Kinderzimmer verstecken.
Früh lernte er, was Antisemitismus bedeutet. In einem Rückblick für das amerikanische Magazin Time beschrieb er seine ersten Erfahrungen so: »Meine Klassenkameraden tuschelten hinter vorgehaltener Hand etwas, das wie ›Jude’ klang, und warfen mir einen schrägen Blick zu. Antisemitismus hinterließ tiefe Spuren in mir, er gab mir das Gefühl, daß ich jenseits meiner eigenen Haustür nicht sicher war.« Die Mitschüler piesackten ihn, und der schlimmste von allen war so groß und so stark, daß der kleine Steve es unmöglich mit ihm aufnehmen konnte. Also gab er ihm eine Rolle in seinem nächsten Film. Er durfte einen Kriegshelden spielen – und war fortan Spielbergs bester Freund.
Viele dieser Kindheitserfahrungen tauchen später in Spielbergs Filmen wieder auf. Er versteht es meisterhaft, mit den Ängsten seines Publikums Achterbahn zu fahren. Ihm wird ein besonderer Zugang zu Kindern zugesprochen. Oft erzählt der Vater von sieben Kindern seine Geschichte aus ihrer Sicht (»E.T.«) oder inszeniert alles als ein großes Abenteuer, wie ein Cowboy-und-Indianer-Spiel. Niemand stehe mit seinem inneren Kind so direkt in Verbindung wie Steven Spielberg, sagen sie in Hollywood über ihn.
Es dauert ungefähr bis zu seinem 40. Geburtstag, dann hat er seine Kindheitstraumata weggefilmt. Empire of the Sun (Das Reich der Sonne, 1987) gilt als einer der Filme, die eine Zäsur markieren. Zwar ist wie bei E.T. die Hauptfigur wieder ein Junge, doch der muß die Invasion Japans in Schanghai miterleben, die seine Kindheit abrupt beendet. »Ich habe sehr schnell festgestellt, daß es kein Zufall war, dass ich praktisch mit dem Erscheinen des Filmes 40 geworden bin«, sagte Spielberg damals der New York Times. »Ich hatte unbewußt entschieden, einen Film mit Erwachsenen-Themen und Werten zu machen.« Damals war Schindlers Liste bereits in der Planung. Der Film über den guten Deutschen, der mit seiner Courage mehr als 1000 Juden im Nazi-Deutschland rettete, wurde nach seinem Erscheinen 1993 genauso kontrovers diskutiert wie jetzt München. Und damals wie heute geht es nicht nur um die Sache, sondern auch um die Person Spielbergs.
In Hollywood und unter den linken Intellektuellen in Amerika herrscht die Auffassung, daß er es mit dem Weißen Hai war, der die große Kommerzialisierung einläutete. Bis dahin war das Filmgeschäft selbst in Amerika eine sorgsame Abwägung gewesen zwischen Qualität und wahrscheinlichem Publikumserfolg. Doch nach dem phänomenalen und ungekannten Erfolg des Weißen Hai an den Kinokassen jagen alle nur noch dem Lottogewinn hinterher, dem einen Film, der alle Rekorde bricht, der Schauspieler, Regisseure, Produzenten zu Multimillionären macht. Gleichzeitig sehen sie in Spielberg den großen Verführer, der Gefühle aus Jux heraus manipuliert, aber der keine Botschaft hat, zumindest keine ernstzunehmende.
Das ließ sich nach Schindlers Liste nicht mehr so einfach behaupten. Trotzdem warfen sie ihm vor, mit der Leidensgeschichte anderer ein Vermögen gemacht zu haben. Das ist einigermaßen skurril, wenn man die Fakten kennt. Der Film, der sieben Oscars erhielt, nahm weltweit 321 Millionen US-Dollar ein. 65 Millionen Dollar davon flossen in Spielbergs Taschen, der mit dem Geld die »Righteous Persons Foundation« gründete, eine Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hat, das jüdische Leben in den USA zu fördern. Außerdem startete der Regisseur und Produzent die »Shoah Foundation«, die bis heute mehr als 52.000 Überlebende des Holocaust interviewte, um deren Geschichten für die Nachwelt zu sichern. Nach Angaben ihres Präsidenten Douglas Greenberg sammelte sie bislang 160 Millionen Dollar Spenden, die auch dazu genutzt werden, Schüler über die Schoa aufzuklären. 54 Millionen Dollar davon, sagte Greenberg der New York Times, stammten aus Spielbergs Vermögen.
Nun also München, ein neues Projekt und neue Kritik. Selten sagte die Reaktion auf einen Film so viel über den Betrachter und dessen politische Position aus. Als ein »Gebet für den Frieden« hat der 59jährige Regisseur und Produzent ihn bezeichnet. Kritiker und Publikum griffen ihn schon vor dem offiziellen Start am 23. Dezember in den USA (der Film startet am 26. Januar in Deutschland) vehement an – als verherrlichend, als vereinfachend, als parteiisch für die palästinensischen Terroristen, als sympathieheischend für die israelische Todesschwadron, die sich an deren Fersen heftete (vgl. Jüdische Allgemeine vom 29. Dezember). Das Feuilleton der New York Times widerspricht den Kollegen von der Meinungsseite, und ein Rabbiner in Los Angeles liegt im Zwist mit der Ehefrau eines der Opfer.
Daß er sich mitten in ein Wespennest setzen würde, war Spielberg durchaus bewußt. Von welchen Seiten die heftigsten Attacken kommen, überraschte ihn dennoch. »Blinden Pazifismus« wirft ein einflußreicher Rabbiner in Los Angeles dem Filmemacher vor. Ehud Danoch, der dortige israelische Generalkonsul, sieht einen »künstlichen« und »mit Vorurteilen beladenen, anmaßenden« Film. Spielberg heuerte prompt einen hochrangigen Berater der israelischen Regierung an, um die heftigsten Angriffe abzuwehren. Sein PR-Team organisierte eine Vorführung für Angehörige der elf israelischen Opfer – und bekam das erhoffte moralische Gütesiegel. Ilana Romano, Ehefrau des ermordeten Gewichthebers Joseph Romano, läßt sich mit den Worten zitieren: »Ich denke, Spielberg hat die Tragödie unserer Angehörigen in eine Milliarde Haushalte in aller Welt gebracht. München behandelt den Terroranschlag und das Schicksal der israelischen Opfer mit großer Genauigkeit.«
Doch darum geht es nur vordergründig. Das Mißverständnis beginnt schon beim Vorspann. »Nach wahren Ereignissen« sei der Film, verkündet Spielberg da und reiht sich ein in das derzeit in Hollywood wieder populäre Genre des politischen Doku-Dramas, das sich an tatsächliche Geschehnisse anlehnt. Zudem liefert Spielberg echte Bilder aus jener Zeit, etwa wenn der Moderator Peter Jennings dem Fernsehzuschauer die traurige Gewißheit verkündet: »They are all gone« – sie sind alle tot. In den folgenden gut zweieinhalb Stunden bedient er sich dann allerdings reichlich locker bei der Wahrheit.
Das Drehbuch für München basiert in weiten Teilen auf dem umstrittenen Buch Vengeance (»Vergeltung«) von George Jonas. Spielberg formte Avner Kauffmann, den Chef des fünfköpfigen israelischen Exekutionskommandos, nach dem Vorbild des Buchs. Bis heute ist jedoch unklar, ob die israelische Regierung ein solches Team überhaupt losschickte. Wahrscheinlich waren es mehrere, sie arbeiteten auch nicht nur ein paar Jahre, wie der Film vermuten läßt, sondern mindestens zwei Jahrzehnte. Die Indizien sprechen zudem dafür, daß ihre Mitglieder nicht als von Zweifeln zerfressene Heimatlose wie Kauffmann in Brooklyn oder sonstwo weiterlebten. Wahrscheinlicher ist, daß der israelische Geheimdienst Mossad in der Nach-München-Ära länger tötete, als der ohne Hintergrundwissen ausgestattete Kinobesucher ahnen kann.
Auf einer abstrakteren Ebene schildert Spielberg die zersetzende Kraft von Gewalt, die eine sich immer weiter drehende Spirale von Gegengewalt in Schwung hält und dabei die Seelen der Beteiligten zerstört. Aber dann läßt er sein Publikum mit dieser eigentlich banalen Erkenntnis alleine. Er stelle zwar all die schwierigen Fragen, befindet etwa der Kritiker der Washington Post, doch er liefere nur die offen- sichtlichen Antworten. Daß das Werk dennoch so kontrovers und vehement diskutiert wird, zeigt zweierlei: die tiefe Verbitterung, die jedes Argument um den israe- lisch-palästinensischen Konflikt beherrscht, und die Parallelen zum aktuellen amerikanischen Diskurs um den sogenannten Kampf gegen den Terror. In beiden Fällen existiert schon lange kein Grau mehr, sondern nur Schwarz und Weiß.
So ästhetisch und elegant erzählt der Film auch sein mag und so groß zugleich seine Schwächen als fiktiv verwobenes Stück Zeitgeschichte sind – er sollte der Anfang eines Dialogs sein, nicht schon wieder dessen Ende. Zudem muß man Spielberg zugute halten, daß er sich wieder einmal – wie bei Schindlers Liste – aus der Deckung wagte.
Eine Idee, wie er weitermachen will, hat er auch schon. Bislang ist kein großes Projekt geplant wie damals die Shoah Foundation, statt dessen wird er eine ebenso simple wie überzeugende Idee verfolgen. Im Frühjahr will er 125 israelischen und 125 palästinensischen Jugendlichen eine Videokamera in die Hand drücken. Damit sollen sie ihren Alltag festhalten: was sie essen, was sie spielen, welche Musik sie hören. Später werden sie die Filme untereinander austauschen. Ein kleiner Schritt hin zum so dringend notwendigen besseren Verständnis für den fremden Nachbarn. Und ganz nebenbei wird ja vielleicht sogar ein neuer Spielberg entdeckt.