von Manuel Gogos
In die Populärkultur hielt sie 1925 Einzug mit dem Song A Yiddishe Momme, komponiert von Lew Pollack, Text von Jack Yellen, ein klischierender Evergreen, der in der Version der berühmten Sophie Tucker seinen Siegeszug am Broadway und um die Welt antrat. In der deutschen Übertragung klingt der Text wie eine kandierte Fassung des Hohelieds Salomos:
»Das Herz der Mutter ist der schönste Diamant.
Das Herz der Mutter ist der größte Schatz im Land.
Durch Wasser und durch Feuer geht eine Mutter für ihr Kind,
nichts ist ihr zu teuer, wenn nur die Kinder glücklich sind.«
Doch von der Verehrung zur Verballhornung ist es nicht weit. 1964 erschien in den USA Dan Greenbergs satirisch-pseudowissenschaftlicher Ratgeber How To Be a Jewish Mother, der das weiße
angelsächsisch-
protestantische Amerika erstmals mit den familiären Sitten und Gebräuchen seiner jüdischen Bürger ver- traut machte. Das Handbuch für praktischen Liebesterror landete schnell auf den Bestsellerlisten. Das Vorwort schrieb die – fiktive – Mutter des Autors, die hier ihre hoch entwickelten Techniken der Erziehung, ihre Geheimnisse der »Zubereitung« ihres Sohnes verriet.
Fünf Jahre später kippte das Mutterbild auch literarisch zur Comicfigur um. Philip Roths Portnoys Beschwerden (1969) wurde zum einflussreichsten und einschlägigsten Text in der Biografie dieser imposanten und ambivalenten Figur. Alexander Portnoy, der Titelheld des inzwischen zum Klassiker gewordenen Romans, liefert auf der Couch des Psychoanalytikers Dr. Spielvogel die intime Lebensbeichte eines neurotischen 33-jährigen jüdischen Intellektuellen, dessen wesentlicher Lebensinhalt aus sexuellen Obsessionen und den daraus resultierenden Schuldgefühlen besteht. Dabei ist seine Mamme der neuralgische Punkt. Im fragilen Gefüge der Gefühlsfamilie steht sie für eine gluckenhafte Fürsorge, die ihren Sohn Alexander mit Liebe vollstopft wie den Thanksgiving-Truthahn. Sophie Portnoy verfolgt in der von dem schwachen Vater ungestörten exklusiven Intimität der Mutter-Kind-Zweierbeziehung selbstherrlich ihr Projekt, den Sohn nach ihrem Bild zu formen. Alexander kann keine Geheimnisse vor ihr haben, selbst in die entferntesten Schlupfwinkel seiner Ohren dringt sie ein. Insbesondere am Eingangstor in die Welt der Erwachsenen, der Pubertät, schiebt die Mamme mit flammenden Blicken eifersüchtig Wache. Ihr Sohn sucht verzweifelt wenigstens eine Sphäre, die er ganz sein Eigen nennen kann und findet sie in obsessiver Masturbation, die ihm ein heimliches und zugleich rebellisches, ein aufbegehrendes Leben verheißt. Doch gerade hier schlägt die ödipale Falle zu. Jeder Moment der heimlichen Wollust ist verbunden mit panischer Angst, von der Mamme entdeckt zu werden. Wie Jonas auf der Flucht vor Gott dem Herrn selbst im Bauch des Walfischs nicht entrinnen kann, ist der jüdische Junge sogar beim heimlichen Onanieren nicht wirklich bei sich. Der omnipräsente Blick, der einst Gott vorbehalten war, wird nun von der jüdischen Mutter stellvertretend übernommen. »Gott kann nicht überall sein, deshalb schuf er Mütter«, weiß das jiddische Sprichwort.
Auch in Rafael Seligmanns Roman Die jiddische Mamme spielt die Mutter eine prägende Rolle bei der sexuellen Zurichtung ihres Sohns. Zu Beginn des Buches spielt sich eine quasi-erotische Szene zwischen der Mutter und dem kleinen Samuel ab: Sie lädt ihn zum gemeinsamen Bad. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass die kindliche Unschuld ein Mythos ist; auch für kleine Kinder ist körperliche Nähe erotisch besetzt. Das Baden mit der Mutter spielt sich also im innersten Bezirk des Inzesttabus ab. Und so mischen sich in dieser Szene Lust und Angst. Denn die Mutter-Kind-Idylle, der sich der verschüchtert begehrliche Samuel anvertraut, ist trügerisch. Nach der wohligen Umarmung und einer Bearbeitung mit dem Waschlappen gibt er sich unvorsichtigerweise dem eigenen Impuls hin, aus der Wanne zu klettern und rutscht aus. Da richtet sich die Mutter vor ihm zu voller Größe auf: »Ihre Stimme klang fern und fremd und kalt: ›Das hast du davon, du Schlemihl, dass du nicht auf mich gehört hast.’« Der Sohn als Opfer mammischer Allgewalt, als zitterndes Kaninchen, das von der mütterlichen Schlange hypnotisiert ist.
Bei aller ödipalen Gemeinsamkeit unterscheiden sich Roths und Seligmanns Mammefiguren aber in einem entscheidenden Punkt. Während der amerikanisch-jüdische Jungmann auf der Flucht vor der allzu präsenten Mutter ist, leidet sein europäisches Pendant vor allem an einem Mangel an Familientradition. Er ist nicht nur Sohn der jiddischen Mamme, er ist auch der Sohn von Überlebenden des Holocaust. Die Mutter ist für ihn das letzte und deshalb unentbehrliche Band zu einer sich traumatisch entziehenden Vergangenheit. Die jiddische Mamme hält mit ihrer radikalen Form der Zuneigung ihre Kinder nicht nur bei der familiären Stange, sondern bindet sie so auch an die Geschichte ihres Volkes. Diesen strategischen Kurzschluss zwischen der Gehorsamspflicht gegenüber der Familie und der Loyalität gegenüber dem Judentum hat der französische Philosoph Alain Finkielkraut treffend beschrieben: »Aus dem ›Bleib bei uns’ wird ein ›Bleib deiner Herkunft treu.‹«