Beim ersten Lesen erschließt sich kein eigentliches Thema dieses Gesprächs. Der 1926 in Breslau geborene Historiker und der frühere Bundeskanzler sprechen ein wenig wahllos und assoziativ über Preußen, Wilhelm II., den Nationalsozialismus, die USA, Denker der Aufklärung, die Bundesrepublik und die DDR, Ernst Reuter, John F. Kennedy, den Staatsbürger in Uniform und über Helmut Schmidt und Fritz Stern selbst. Ein Jahrhundertpotpourri, gewürzt mit kleinen Geschichten, wie zum Beispiel der, wie Helmut Schmidt einmal fast Zbigniew Brzezinski aus seinem Büro geworfen hätte.
Nur vordergründig unterhalten sich Schmidt und Stern über das vergangene und das gegenwärtige Jahrhundert. Zwar zitieren beide sehr kenntnisreich viele der einschlägigen historischen Werke, aber hinter dem Schirm gelehrter Thesen geht es wirklich um die langen Schatten der Schoa in der gegenwärtigen Welt und welche Schlüsse der frühere Wehrmachtsoffizier und der deutsch-jüdische Emigrant daraus ziehen. Dabei hält man ab und zu den Atem an. Das liegt nicht daran, dass die Diskutanten Dinge preisgeben, die man noch nie gehört hätte, es sind die Formulierungen und der Ton des Ex-Bundeskanzlers. Immer da, wo es um Motive, Interessen, Gedanken und Gefühle von Opfern der Deutschen geht, ruft er zur Ordnung: »Fritz, wir sind fast schon wieder bei Hitler!«
In den Händen hält der Leser keinen lediglich vom Band abgeschriebenen Text eines dreitägigen Gespräches, sondern eine mehrfach überarbeitete und umgeschriebene Version davon. Gleich zu Beginn fragt Stern Schmidt, ob er von einer besonderen Verantwortung der Deutschen für Polen sprechen würde. Schmidt verneint, darauf Stern etwas später: »Nie und nirgends hat eine deutsche Armee so viele Gräuel geschehen lassen außer in Polen und dann später in Russland.« Schmidt erwidert: »Ich stimme dem zu. Es ging aber voraus, am Ende des 18. Jahrhunderts …« In der darauffolgenden Passage entwirft er einen Überblick über die Geschichte Polens, ohne auf die von Stern angesprochene deutsche Ausrottungspolitik zurückzukommen.
schatten der schoa Bei genauem Lesen entpuppt sich der Text als eine Art Beratungsgespräch des Historikers mit dem Politiker. Stern spricht den Ex-Kanzler auf die lange Tradition antidemokratischer und antisemitischer Politik in Deutschland an. Er bittet ihn immer wieder, etwa beim Thema Polen oder Israel, doch noch andere Aspekte in den Blick zu nehmen. Stern scheitert jedoch an einer durch Schweigen oder abrupte Themenwechsel demonstrierten Empathielosigkeit seines Gegenübers. In dem Versuch, auf Schmidt zuzugehen, geht Stern sehr weit. Zu weit? Noch bevor Schmidt sein eigenes Verhältnis zu Israel dargelegt hat, erläutert Stern, er halte die vorbehaltlose Unterstützung Israels durch die Administration von George W. Bush für den eigentlichen »Totengräber Israels«. Stern behauptet gar, in den USA würde Kritik an Israel »schnell als Antisemitismus« gelten. Er distanziert sich sehr weitgehend von der Politik Israels.
Schmidt hingegen formuliert statt Kritik Ressentiments, er deutet Israel zum Aggressor im Nahen Osten um, behauptet, Israel sei das größte Problem einer Friedenslösung. Ohne auf die permanenten Zerstörungsversuche einzugehen, denen Israel sich seit seiner Gründung ausgesetzt sieht, betont Schmidt, Israel sei ein »kleiner Staat, der durch seine Siedlungspolitik auf der Westbank und länger schon im Gazastreifen eine friedliche Lösung praktisch unmöglich macht.« Eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik für die Sicherheit Israels lehnt Schmidt, deutlich kritisiert von Stern, rundheraus ab: »Deutsch- land hat keine Verantwortung für Israel.«
Wer ein gutes Buch zum letzten Jahrhundert sucht, braucht diesen Band nicht. Wer verstehen will, warum es auch einem der größten Historiker des deutschen Sonderwegs nicht gelingt, einen immer noch einflussreichen deutschen Politiker zu überzeugen, der sollte es kaufen. Der Leser blickt in einen Abgrund von Herzlosigkeit.
Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. C.H. Beck, München 2010, 287 S., 21,95 €