Terroropfer

»Ihr habt keine Ahnung, was da los ist«

von Vera von Wolffersdorff

Orly Dirschauer lacht oft und gern. Ihr Lachen klingt kehlig und viel tiefer als die helle, klare Stimme, mit der sie sonst spricht. Es fällt sofort an ihr auf. Orly ist klein, keine 1 Meter 60 groß – und sie kann äußerst temperamentvoll und unterhaltsam erzählen. Unkompliziert scheint sie auch zu sein, barfuß läuft sie in ihrer perfekt aufgeräumten Münchner Wohnung herum, bevor sie es sich in einer Ecke des weißen Sofas bequem macht. Ihre hellbraunen Augen blicken neugierig und aufmerksam, ihr Gesicht ist schmal und voller Sommersprossen. Die mittelblonden Haare hat sie nach hinten zusammengebunden.
Gerade ist sie 26 Jahre alt geworden, und daß sie noch am Leben ist, ist ihr allergrößtes Glück. Am 31. März 2002 saß sie in ihrer Heimatstadt Haifa mit ihrer besten Freundin in einem arabischen Restaurant. Sie wollten zusammen essen. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich genau in diesem Moment neben den beiden jungen Frauen in die Luft. Orlys Freundin war sofort tot. »Ich erinnere mich an jedes kleine Detail an diesem Tag. Ich kann auch alles beschreiben. Nur über den Moment selbst, den Moment, als die Bombe zündete, darüber kann ich nicht sprechen – noch nicht«, erzählt Orly. Fast entschuldigend lächelt sie dabei. Sie trägt Silberschmuck an Händen und Ohren und unter dem rechten Ärmel spitzelt ein kleines Tattoo, eine Art Eidechse, hervor. Wenn sie redet, gestikuliert sie engagiert, manchmal kratzt sie sich nervös am Bein.
Seit dem Anschlag steckt in einem ihrer Lungenflügel eine Schraubenmutter, eine weitere Mutter durchschlug ihren Dick- und ihren Dünndarm, eine dritte durchtrennte den linken Oberarm. Sie wurde mehrfach operiert, heute kann sie mit den Folgen ihrer Verletzungen einigermaßen schmerzfrei leben. Am meisten stört sie ein Tinnitus im Ohr, ein pfeifender Ton, den sie seitdem hört und weshalb sie Stille fürchtet. Den Fernseher stellt sie immer besonders laut, damit er sie ablenkt. Als ihre äußeren Verletzungen fürs erste geheilt waren, wollte sie nur eins: Raus aus Israel. »Das war das Beste, was ich machen konnte. Mich in Sicherheit bringen.« Ihre Eltern waren seit langem geschieden, der Vater lebte bereits in Dortmund, sie fuhr zu ihm und fing im Januar 2003 an, in seinem Restaurant zu arbeiten.
So zog sie nach Deutschland, inzwischen ist sie mit einem Deutschen verheiratet. Die beiden lernten sich in den Ferien auf Mallorca kennen. »Es war Liebe auf den ersten Blick«, sagt Orly grinsend, »auch wenn man das in so einem Club am Ballermann nicht unbedingt erwartet.« Drei Monate später zogen sie in Hamburg in eine gemeinsame Wohnung, nach sechs Monaten feierten sie Hochzeit. Israelin ist Orly geblieben. Seit knapp einem Jahr lebt das Paar nun in München – ihr Mann nahm dort eine neue Stelle an. Es gefällt ihnen gut in Bayern, sie findet die Menschen offen und freundlich. Vergangenen Winter haben die Dirschauers mit dem Skifahren begonnen. Orly absolviert derzeit ein Fernstudium an der Londoner Business School und möchte ihren MBA machen. Lernen kann sie nur am Wochenende, während der Woche arbeitet sie bei einem internationalen Dienstleistungskonzern. Ob sie ein religiöser Mensch ist? »Nein, nicht sonderlich«, wehrt sie ab. Natürlich feiert sie Pessach und Rosch Ha-schana, und sie glaubt an Gott, aber die Synagoge besucht sie so gut wie nie.
Was sie in den Wochen seit Kriegsbeginn hierzulande an Meinungen zu hören bekam, hat sie irritiert. »Ich habe so viele negative Reaktionen bekommen, Reaktionen, die ich nicht nachvollziehen kann. Daß wir – die Israelis – Kinder töten und daß wir alles falsch machen.« Da sei in ihr das Bedürfnis entstanden, Partei für Israel zu ergreifen. Obwohl sie findet, »daß beide Seiten verrückt sind.«
Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, sie spricht jetzt deutlich lauter: »Es nervt mich, wenn die Leute hier sagen, wir sollten das nicht tun und hier nicht bombardieren, sondern lieber miteinander reden. Ihr habt keine Ahnung, was da los ist. Was im Fernsehen gezeigt wird, ist nicht falsch, aber es ist nicht wirklich das, was da los ist.« Ein wohlmeinender Arbeitskollege riet: »Laßt die Hisbollah doch Raketen zünden, die werden schon irgendwann damit aufhören.« Orly schüttelt den Kopf. »Nach dem Motto: Wir sollten einfach nicht reagieren.« Dem Kollegen empfahl sie:»Weißt du was: Nimm jetzt einen Flieger nach Israel, bleibe dort eine Woche, und dann reden wir nochmal.« Über eine Million Menschen in Israel verkrochen sich in den Kriegswochen in ihren Kellern – sonst hätte es nach den Tausenden von Raketeneinschlägen viel mehr Tote gegeben. Orly hörte Vorwürfe von Menschen, die ihr Wissen aus Fernsehsendungen bezogen, in denen meist aus dem Libanon, seltener aus Israel berichtet wurde: »Wir werden verlieren, der Krieg ist falsch, wir wissen nicht, was wir machen, wir seien aggressiv, wir wären schon immer aggressiv gewesen – das hörte ich ständig von vielen.« Sie kann das nicht begreifen.
Orly zieht die Beine auf dem Sofa an, legt ihre Hand auf einen Fuß und stellt ganz unaufgeregt fest: »Ich glaube, die Deutschen interessieren sich nicht wirklich für den Nahen Osten. Eigentlich kann ich das verstehen. Man wacht auf, hört Nachrichten, hört, daß eine Bombe explodiert ist – und geht zur Arbeit. Ich finde das auch gut, denn jetzt, wo ich hier lebe, fühle ich mich sicher vor Anschlägen, worüber ich sehr froh bin.«
Studieren, Spaß haben, glücklich sein. Mehr als die Hälfte der Verletzten eines Selbstmordanschlags schaffen es später nicht, in ein normales Leben zurückzu- kehren. Doch Orly hat sich durch ihren Abschied von Israel die Basis für ihre Heilung geschaffen. Hat sie sich persönlich sehr verändert? Wieder lacht sie: »Ja. Heute macht mich ein Telefongespräch mit meinem kleinen Neffen eine Woche lang glücklich. Früher habe ich so etwas kaum beachtet. Überhaupt ist Familie für mich viel wichtiger geworden.« Dennoch – mit den psychischen Folgen ihrer Verletzungen hat sie bis heute zu kämpfen. Flugangst ist da noch das kleinste Übel, oft überkommt sie im Alltag ganz plötzlich Panik. Wenn sie eine Treppe hinunter- geht, hält sie sich am Geländer fest, damit sie nicht fällt. Das erzählt sie mit eher leiser Stimme. Doch auch damit läßt sich leben. Orly zuckt mit den Schultern. »Ja. Toi toi toi, bin ich noch da.«
Sie weiß jetzt genau, was ihr in ihrem Leben wichtig ist: Wahrhaftig zu sein zu anderen und zu sich selbst: »Ich sehe das Leben schöner als vor dem Attentat, ich mache keine Pläne mehr, ich weiß, was ich die nächsten ein bis drei Monate mache – länger vorausplanen geht nicht.« Sie hält inne, macht eine kleine Pause beim Reden. Dann sagt sie: »Die Leute sind oft erstaunt, wie ich über dieses Attentat rede. Daß ich lache, während ich es erzähle.«
An die Fahrt ins Krankenhaus in Haifa, damals, nach dem Anschlag, erinnert sie sich noch bis ins kleinste Detail. Die Sanitäter sagten zu ihr, sie solle die Augen schließen und sich entspannen. Das wollte sie aber nicht. Sie wollte unbedingt bei Bewußtsein bleiben, wachbleiben, leben. Zum Fahrer des Rettungswagens meinte sie, er solle doch bitte nicht so rasen. Sie hatte Angst vor einem Unfall.
Gar keine Spur von Bitterkeit, die da zurückbleibt? Orly erweckt den Anschein, als stelle sich ihr diese Frage gar nicht. »Ich arbeite, ich lache, ich studiere, ich lebe ganz normal – nur eben nicht das Leben, das ich mir gewünscht habe«, räumt sie ein. »Meine Narben schmerzen, atmen ist schwierig, aber ich lebe. Und ich möchte nicht sterben. Ich glaube, daß ich weiterlebe, um etwas aus meinem Leben zu machen, etwas zu schaffen. Das versuche ich.« Da lacht sie wieder, aber ein bißchen schmerzlich klingt das schon.

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