Vor ein paar Tagen bin ich aus dem Urlaub zurückgekehrt. Schon zum elften Mal waren meine Frau Marianne und ich auf der schönen Nordseeinsel Borkum. Jedes Jahr im Sommer zieht es uns dorthin. Und im Frühjahr geht’s immer nach Teneriffa, auch das schon seit elf Jahren. In diesem Frühjahr haben wir noch eine weitere, ganz besondere Reise unternommen, denn wir hatten unseren 40. Hochzeitstag: Da sind wir mit dem Schiff zum Nordkap gefahren. Ein unvergessliches Erlebnis für uns beide.
Auf den Reisen schöpfen wir Kraft für unseren Alltag hier in Leipzig. Oft ist mein Terminkalender gut gefüllt: Ich bin Mitglied des sächsischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden, der sich zweimal im Monat trifft. Als Vertreter des Landesverbandes gehöre ich auch der Versammlung der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und Neue Medien an. Das ist die Institution, die die privaten Rundfunkveranstalter in Sachsen lizenziert und überwacht. Ich arbeite im Ausschuss Programm und Jugendschutz mit, zum Beispiel schaue ich mir DVDs an, auf denen Fernsehsendungen aufgezeichnet sind und überprüfe sie auf jugendgefährdende Inhalte. Das ist für mich sehr anstrengend. Schließlich bin ich kein Medienfachmann, sondern gelernter Elektroinstallateur.
An mein Arbeitsleben erinnere ich mich gern, denn mein Beruf hat mir meistens Spaß gemacht. Fast 40 Jahre lang habe ich im selben Betrieb gearbeitet – fast unvorstellbar unter heutigen Bedingungen! Gleich nach Beendigung meiner Lehre 1951 wurde ich im damaligen VEB Geophysik eingestellt und habe bei der Suche nach Erdöl, Erdgas und Kohle mitgearbeitet. Nach einer Krankheit musste ich in den Innendienst wechseln und war dann bis 1991 als Einkäufer in der Materialversorgung für Elektrotechnik tätig. Das war trotz der Einschränkungen in der DDR eine gute Zeit.
Geboren in Leipzig, bin ich der hiesigen Israelitischen Religionsgemeinde schon immer verbunden. Als Kind ging ich mit meinen Eltern in die Synagoge. In unserem Viertel nahe der Innenstadt wohnten viele Juden, wir haben zusammengehalten, erfuhren in der Nazizeit aber auch Hilfe von nichtjüdischen Leipzigern. Erst im Februar 1945 hat man meinen Vater und mich abgeholt und nach Theresienstadt gebracht. Wir hatten Glück, denn schon vier Monate später wurden wir befreit. So hat unsere kleine Familie die schreckliche Zeit überstanden. Meine Großmutter, die Tante und mein Cousin sind in Treblinka umgebracht worden.
Auch in der DDR-Zeit habe ich mich in der Gemeinde engagiert, obwohl ich nicht sehr religiös lebe. Wir waren hier in Leipzig eine kleine, aber gute Gemeinschaft. Als dann kurz nach der Wende mein Betrieb abgewickelt wurde und man mich ich in den Ruhestand schickte, nahm ich eine neue Herausforderung an: Von 1992 bis 1999 war ich geschäftsführendes Vorstandsmitglied unserer Gemeinde. Nach dem Tod unseres langjährigen Vorsitzenden Aron Adlerstein wurde ich im Jahr 2000 erst für eine Übergangszeit als Vorsitzender eingesetzt und ein Jahr später dann von der Gemeinde gewählt. 2004 stellte ich mich nicht wieder zur Wahl. Aber ich nehme an den monatlichen Treffen der Repräsentanz teil. Vieles beschäftigt mich da sehr: der Bau des Gemeindezentrums, dessen Fertigstellung sich um Jahre verzögert hat, die Probleme in der Gemeinde, die Diskussionen zwischen den Verantwortlichen ...
Ich wünsche mir unsere Gemeinde als Ganzes, als gute Gemeinschaft, in der alle sich wohlfühlen. Leider hat das in den letzten Jahren immer mehr nachgelassen, weil manche Gruppierungen versuchen, die anderen zu dominieren. Zur Wendezeit waren wir hier in Leipzig nur noch 35 Gemeindemitglieder. Wir hatten nicht mal zehn Männer, um einen Minjan zusammenzubekommen – da mussten wir viel improvisieren. Wir waren von jeher eine ganz liberale, deutsche Gemeinde. Das hat sich in der Zwischenzeit gravierend verändert.
In den 90er-Jahren begann der Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, und wir haben uns über viele neue Mitglieder gefreut. Wir gaben uns Mühe, sie gut zu empfangen und an die Gemeinde zu binden. Neben den Gottesdiensten begannen wir mit Sprach- und Religionskursen. Mittlerweile hat die Leipziger Gemeinde fast 1.300 Mitglieder, die meisten von ihnen stammen aus Russland und der Ukraine. Die haben eine ganz andere Mentalität, und viele können noch nicht richtig Deutsch. So kommt es, dass überall nur noch Russisch gesprochen wird – und wir Einheimische verstehen nichts. Da gibt es viele Missverständnisse. Die zahlreichen Einwanderer geben unserem Gemeindeleben auf einmal eine sehr orthodoxe Prägung, damit haben die Einheimischen zum Teil große Schwierigkeiten und fühlen sich nicht mehr wohl. Viele ziehen sich zurück, kommen nicht mehr zu den Gottesdiensten, weil alles ganz anders abläuft, als sie es lange Zeit gewohnt waren. Auch bei den Jahreshauptversammlungen wird nur noch Russisch gesprochen. Sogar unser Gemeindeblatt erscheint nun zuerst in russischer Sprache, viel später erst gibt es dann eine deutsche Ausgabe. Oft sind dann viele Termine schon verstrichen. Das ist sehr bedauerlich.
All das hat dazu geführt, dass ein Riss durch unsere Gemeinde geht. Dabei hätten wir doch jetzt alle Möglichkeiten, eine große und lebendige Gemeinschaft zu werden. Im nächsten Jahr wird der Bau unseres neuen Begegnungszentrums abgeschlossen sein und uns großartige räumliche Bedingungen bieten. Und in Küf Kaufmann haben wir einen engagierten Vorsitzenden, der als Integrationsfigur wirken kann. Er ist ein angesehener, bekannter Mann in der Stadt und spricht Deutsch fast ebenso gut wie seine Muttersprache Russisch. Alles in allem ist die derzeitige Situation doch eine große Chance für uns alle! Ich wünsche mir unsere Gemeinde als Ganzes, als Gemein- schaft, in der jeder sich aufgehoben fühlt.
Ich komme mir derzeit in der Gemeinde oft wie ein Fremder im eigenen Haus vor. Aber ich möchte mich nicht aufs Meckern beschränken. Deshalb werde ich den Vorschlag unseres Vorstands, wieder für die Repräsentanz zu kandidieren, wahrscheinlich annehmen. Ich setze auf die nächste Generation: Da gibt es viele aufgeweckte, engagierte junge Leute, die gut Deutsch sprechen und mit Jugendlichen von hier befreundet sind. Sie sind integriert in unsere Gesellschaft und sehen viele Dinge anders als ihre Eltern, die von ihrem bisherigen Leben in einer Diktatur geprägt sind. Das sind beste Voraussetzungen dafür, dass unsere Gemeinde zusammenwachsen kann. Daran möchte ich mitarbeiten.
Aber ich beschäftige mich auch mit vielen anderen Dingen: Ich lese sehr viel, nicht nur die Zeitung, sondern auch verschiedenste Bücher. Besonders glücklich bin ich über unsere drei Enkel, die Kinder von unserem Sohn Thomas und seiner Frau. Es ist das größte Glück für uns, mit ihnen zusammen zu sein, wir genießen jede Minute.
Sportlich aktiv sind meine Frau und ich auch immer noch: Marianne macht dreimal in der Woche Sport, ich gehe einmal wöchentlich zum Faustball. Da bin ich schon seit 40 Jahren dabei. Außerdem machen wir fast jedes Wochenende eine Radpartie in die Umgebung. Und unser Garten will auch gepflegt sein. Ein bisschen stolz bin schon, dass ich das alles noch schaffe, denn nächstes Jahr werde ich 75. Wie heißt es so schön: Rentner haben niemals Zeit.
Aufgezeichnet von Gundula Lasch