Mina Gampel

»Ich wünsche mir Anerkennung«

Man könnte mein Motto »Tradition und Moderne« nennen. Ich bin Malerin, ich habe in Nancy, Zürich, in den Niederlanden und Belgien, in Polen und in vielen Städten Deutschlands ausgestellt. Zur Zeit werden meine Bilder in Schloss Salem am Bodensee gezeigt. Ich brauche das Malen wie die Luft zum Atmen. Meine Arbeiten sind im Laufe der Jahre abstrakter geworden. Trotzdem sieht man in jeder, was ich denke und fühle. Eine meiner schönsten Ausstellungen war im Schloss Stettin: über 70 Bilder nur von mir, ein riesiges Medienaufgebot und viele Schulfreundinnen. Für mich war es, als würde ich nach Hause kommen.
Nur die Wohnung war leer und meine Eltern nicht mehr da. An sie erinnere ich mich häufig. Unser Schabbat begann immer schon am Donnerstag. Mammele ging auf den Markt und kaufte ein Huhn. Ich weiß es noch wie heute: Sie drehte das Tier auf den Rücken und pustete in die Federn, um zu sehen, ob es fett genug war. Von diesem Huhn haben wir die ganze Woche gegessen: Als Suppe, dann das Fleisch durch den Fleischwolf gedreht, mit Brot vermischt und gebraten zum Schabbat, die Leber mit Eiern und Zwiebel gab es als Vorspeise, und das gegarte Herz bekam ich.
Ich bin die jüngste von acht Geschwistern, das Nesthäkchen, 1940 geboren. Bei uns wurden keine Lebensmittel weggeworfen. Wir lebten in Pinsk, das liegt heute in Weißrussland, damals war es Polen. Golda Meir lebte ein paar Jahre dort, und Chaim Weizman, der erste israelische Präsident, besuchte das Gymnasium in Pinsk. 1941 sind wir geflüchtet. Immer vor den Deutschen her. Zuerst nach Astrachan im Süden Russlands, dann nach Kirgisien. In Frunse, heute heißt es Bischkek, hörten wir am 8. Mai 1945 von der Befreiung. Wir wollten zurück nach Pinsk, aber man ließ uns nicht. So sind wir nach Stettin gekommen, wo ich die meiste Zeit meiner Kindheit verbrachte.
Schon damals beeindruckten mich die inbrünstigen Gesichter der Betenden in der Synagoge. »Wenn ich die mit Stift und Farbe festhalten könnte«, hab’ ich damals gedacht. Aber ich war ja noch ein Kind. Heute findet man diese Erinnerungen als Motive in fast allen meinen Bildern. Denn die Malerei, die hat mich nach beruflichen Umwegen schließlich richtig gepackt. »Mina, du kannst doch malen«, sagte eines Tages ein bekannter Bildhauer zu mir. Da lebte ich schon in Stuttgart. Von da an habe ich wie eine Besessene ge- arbeitet, mit Öl, mit Guache, mit Acryl: Blumenbilder, Porträts, Motive aus Pinsk und aus Stettin und Motive aus der Gegenwart.
Ich nahm privaten Malunterricht, studierte an der Kunstakademie Esslingen und der Europäischen Kunstakademie der Bildenden Künste in Trier. Als eine Malreise nach Kreta anstand, habe ich meine Versicherung aufgelöst, um an Geld zu kommen. Nachdem mich mein Mann mit unseren drei Kindern hatte sitzen lassen, war mir nur ein Berg Schulden geblieben.
Das war kurz bevor ich nach Deutschland gekommen bin. Der sehnlichste Wunsch meiner Familie war die Auswanderung nach Israel. In den 50er-Jahren wurde es möglich – Wladislaw Gomulka war 1956 Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei geworden. Im Bauch unseren ersten Sohn, kam ich in Naharija an. Man gab uns einen Blechschuppen als Wohnraum. Dort haben wir nicht eine Nacht verbracht. Das war unmöglich, ich hochschwanger und dann diese Hitze! Wir haben ein Zimmer bei Freunden gemietet und wohnten später in Nachlat Jehuda bei Rishon Lezion. In Israel war ich der glücklichste Mensch. Alle waren Einwanderer. Wir sprachen Polnisch und Jiddisch miteinander. Die Kinder – ganz schnell waren es drei -- wuchsen wie Pilze im Wald. Im Kindergarten und in der Schule lernten sie Hebräisch. Wir sind ans Meer gefahren. Wir feierten israelische Nächte. Und kaum hatte ich die viele Wäsche aufgehängt, war sie schon trocken. Zehn Jahre war ich in Israel. Die Zeit ist so schnell vergangen. Drei kleine Kinder, da konnte ich nicht an mich denken. Leider war es finanziell schwierig. Mein Mann war Maler, er verdiente nicht viel. Einer meiner Brüder lebte in Deutschland. Er sagte, kommt nach Deutschland, ich helf’ euch. Es war ein schwerer Entschluss, von Israel wegzugehen. Ich willigte für zwei Jahre ein. So kam ich nach Süddeutschland. Inzwischen war meine Ehe kaputt gegangen.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich wurde so richtig auf den Boden der Realität gestoßen. Was war mir geblieben? Alles tat ich, um zu überleben. Hab’ als Serviererin und als Putzfrau gearbeitet, eine Diskothek geführt, später war ich Erzieherin im Kindergarten der Stuttgarter Gemeinde.
Immer, wenn mein Leben besonders turbulent war, hab’ ich mit den Kindern gemalt, Monet und andere Impressionisten nachgeahmt. Schon im Zeichenunterricht in der Schule waren meine Bilder immer hochromantisch: die untergehende Sonne im Wasser, davor eine Bank und zwei Liebende. Von dieser Romantik war nun nichts mehr geblieben.
Ohne mein Vertrauen in Gott hätte ich es nicht geschafft. Ich weiß, dass es diese wunderschöne Welt ohne Ihn nicht geben würde. Ich lese regelmäßig den Wochenabschnitt in der Bibel. Am schönsten ist, wenn man es am Schabbat tut. Ich habe immer den Schabbat gefeiert. Ich habe es gemacht, wie es bei meinen Eltern üblich war. Und als die vielen Zuwanderer in unsere Stuttgarter Gemeinde kamen, habe ich sie eingeladen. Da haben sie es von mir gelernt.
Jetzt gehe ich nicht mehr so oft in die Synagoge. Aber manchmal packt es mich, ich brauche die Gebete und die Nähe zum Judentum. Deshalb war ich vor 30 Jahren auch Gründungsmitglied des TSV Makkabi Stuttgart. Bis heute habe ich dem Verein die Treue gehalten, und das war nicht immer leicht. Für die Tombola zum Purimball spende ich seit einigen Jahren immer ein Bild. Meine ganze Wohnung lebt von den Bildern, sie hängen überall. Und jede Woche male ich mit meinen Studenten 30 Bilder.
Ich wünsche mir die Anerkennung als Malerin, die ich verdiene. Früher waren Juden gezwungen, etwas Außergewöhnliches zu sein, um anerkannt zu werden. Vielleicht steckt das ja auch in mir. Ich bin doch weit gekommen: Ich bin Dozentin an der Kunstakademie Esslingen, ich bilde mich als Gasthörerin für Kunstgeschichte an der Stuttgarter Universität fort, ich habe mehrere Sprachen gelernt, ich hatte viele Ausstellungen. Und ich habe wieder eine Liebe gefunden. Er nennt mich »Mindelchen«, das sagt sonst niemand. Er hat mir so viel Kraft in meinem schwierigen Leben gegeben, mich unterstützt in der deutschen Sprache und als Künstlerin.
Ich kann wieder lieben und leben. Ich liebe Tanzen, aufgeschlossene Menschen, offene Gespräche, Blumen, Natur und das Barfußgehen. Ich lese viel. Kürzlich das Buch von Manfred Flügge Die vier Leben der Marta Feuchtwanger. Da bin ich draufgekommen, dass ich auch vier Leben habe. Mein Schicksal hat mich gezwungen, als Frau auf eigenen Füßen zu stehen. Klar, die Vitalität ist mir in die Wiege gelegt worden, und ich bin mit viel Liebe aufgewachsen. Liebe ist mehr wert als alle pädagogischen Bücher. Doch die Vergangenheit ist immer da. Auch wenn ich mit meinen Schülern beim Tee sitze und mit ihnen über ihre und meine Vergangenheit spreche.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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