Michael Degen

»Ich wollte unbedingt zu Brecht«

Herr Degen, warum haben Sie sich 1951 entschlossen, aus Israel wieder wegzugehen? Ihre Mutter wollte ja eigentlich nachkommen, und für viele Juden, die Deutschland und Europa entkommen waren, war es doch eigentlich undenkbar, nach Deutschland zurückzugehen.
degen: Sie haben völlig recht. Das war der Beruf. Das war die Schauspielerei.

Sie waren da schon Schauspieler?
degen: Ja, ich habe meine ersten großen Rollen in Hebräisch gespielt.

Am Theater?
degen: Ja. In einem sehr prominenten Theater, Kammerspiele in Tel Aviv. Das war so das moderne Theater, im Gegensatz zum Staatstheater Habima. Aber es war nicht meine Sprache und ist es bis heute nicht. Ich kann mich mit Ihnen in Hebräisch unterhalten, aber ich kann auf der Bühne nicht so viel ausdrücken wie ich es im Deutschen kann. Das ist nicht meine Muttersprache. Es gab dort keine Souffleusen. Das heißt, man muss-te, wenn man hing, und den Text nicht wusste – das kann ja mal vorkommen, selbst bei jüngeren Schauspielern – ja, da musste man etwas ersetzen können. Das konnte ich in der ersten Zeit überhaupt nicht. Ich hatte die Sprache so nicht zur Verfügung. Das legte sich dann mit der Zeit. Ich hab‹ sogar dann Späßchen gemacht. Aber ich Grunde genommen war es nicht meine Sprache.

Dann sind Sie zurück und sind zu Brecht gekommen? Wie kam Brecht auf Sie oder Sie zu Brecht?
degen: Ich saß immer bei Brecht in den Proben, soweit ich konnte. Und das hat mich unerhört fasziniert.

Was war das Faszinierende daran? Zumindest ein Teil der Kritik, bis hin zu Reich-Ranicki, sagt ja, er war ein großer Theatermann und er verstand was von Effekten, von Bühne, aber eigentlich in dem Sinne kein Dramatiker.
degen: In konventionellem Sinne vielleicht kein Dramatiker, aber er hat eine völlig neue Form geschaffen, die – das gebe ich zu –wahrscheinlich nur für ihn gilt. Die er nur so praktizieren kann. Er hat seine Stücke auch durch die Schauspieler geschaffen. Das heißt, er hat eine Vorlage gegeben, und die Schauspieler haben angefangen zu spielen, untereinander sich zu verständigen. Und er hat überhaupt nicht eingegriffen. Er stand hinten im Zuschauerraum und unterhielt sich mit Manfred Weckwert, mit irgendwem, guckte überhaupt nicht zu, und plötzlich sagte er: ›Moment, was hast Du da gemacht?‹ Und er sagte zum Regieassistenten: ›Das und das und das, bitte haltet das mal fest, haltet das fest!‹ So baute er langsam seine Stücke. Das dauerte natürlich ein halbes bis ein dreiviertel Jahr, so eine Probenzeit. Das konnte sich kein anderes Theater in Deutschland erlauben. Aber da entstanden Inszenierungen wie ›Koriolan‹, die waren einfach umwerfend, die waren atemberaubend.
Und so war es dann auch in einem Stück von Synge, ›Der Held der westlichen Welt‹. Ein irisches Stück. Da gibt es eine sehr dominante Frau, die einen Bräutigam hat, der furchtbare Angst vor ihr hat, sie liebt, aber trotzdem furchtbare Angst hat, auch immer verprügelt wird, ein bisschen. Und Brecht sagte zu mir: ›Ich seh’ dich dauernd hier, was machst du hier?‹ ›Ich seh’ zu.‹ ›Ah ja. Willst Du die Rolle von dem Bräutigam spielen?‹ Und ich sagte: ›Mmh, ja.‹ ›Na ja, Du, aber der hat doch Angst vor dieser Frau. Das hast Du doch gesehen? Gut, ja. Wir machen jetzt eine lange Pause. Da oben auf der Bühne steht ein riesiger Schrank. (Der war ungefähr 2,50 Meter hoch). Wenn Du in zwei Sekunden auf diesem Schrank bist, hast Du die Rolle.‹ ›Wie soll ich denn das machen?‹ Und das war sehr unfair. Ich empfand das als sehr unfair. Ich weiß nicht, was er damit wollte, bis heute nicht.

Haben Sie die Rolle bekommen?
degen: Ja.

Wie?
degen: Da war ein Bühnenarbeiter, der das auch sehr unfair fand, der hat mir Zwingen hineingeschlagen, in derselben Farbe, wie die Schrankwand war. Der sagte mir: ›Du musst Dir bloß die Schuhe ausziehen, denn mit den Schuhen schaffst Du das nicht. Die dürfen nicht zu sehen sein, die müssen ganz tief reingeschlagen sein.‹ Das hat er auch gemacht, im Laufe von zehn Minuten. Und als dann Brecht kam und sich erinnerte, nach einer halben Stunde, sagte er: ›Du wolltest doch auf den Schrank! Mach‹ das doch mal!‹ Und ich: ›Ich weiß nicht, ob ich das kann, ob mir das gelingt.‹ Und war dann also in zwei Sekunden oben. Er war baff. ›Du hast die Rolle. Aber jetzt sag‹ mal, wie hast Du das gemacht?’ , Das verrat’ ich nicht!’

Hat die Vergangenheit für Sie eine Rolle gespielt? Haben Sie darüber nachgedacht, mit wem spiele ich da, spiele ich mit Menschen, von denen ich gar nicht weiß, was sie im Dritten Reich gemacht haben? Oder haben Sie das mehr von sich ferngehalten?
degen: Nein, da kam noch keine Erinnerung auf, oder sollte keine Erinnerung aufkommen. Aber einmal sollte ich mit einem Kollegen, der in dieser Zeit ein großer Mann gewesen war, ein Staatsintendant, ›Götz von Berlichingen’ spielen. Und ich habe kurz vorher erfahren, wer der Mann war. Das war ein Mann, der auch Leute denunziert hatte, die sich mal ein bisschen kritisch geäußert hatten. Also ein äußerst gefährlicher Mann. Ich habe ihm auf der Bühne gesagt: ›Also, ich habe das und das von Ihnen erfahren. Stimmt das?‹ ›Das geht Dich überhaupt nichts an.‹ ›Gut, o.k., wir stehen zusammen nicht auf der Bühne.‹ Und da habe ich die Bühne verlassen.«

Aber danach war das dann wieder abgehakt, oder?
degen: Na ja, ich bin entlassen worden.«

Auszug aus der 3sat-Sendung »Bühler Begegnungen. Peter Voss im Gespräch mit Michael Degen«. Mit freundlicher Genehmigung von 3sat. Das ganze Interview sendet 3sat am 31. Januar um 15.15 Uhr.

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