Dror Shaul

»Ich war nicht glücklich im Kibbuz«

Herr Shaul, Ihr Film, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt, ist als »Kibbuzdrama« beschrieben worden. Ist er das wirklich?
shaul: Nein. Es geht erst in vierter oder fünfter Linie um den Kibbuz. Wenn ich nur davon erzählt hätte, hätte der Film nie einen so großen Erfolg erzielen können, weder in Israel noch international. Was »Sweet Mud« so interessant macht, ist die Universalität der Geschichte. Sie erzählt von einer Mutter und ihrem Sohn. Deshalb versteht man den Film auf der ganzen Welt. Nur am Rande des Films wird auch Kritik an den Zuständen im Kibbuz geübt, indem ich zeige, welche Zustände dort in den 70er-Jahren geherrscht haben.

Dvir, der Junge im Film, versucht, seiner kranken Mutter zu helfen, die an den strengen Regeln des Kollektivs zu zerbrechen droht.
shaul: Normalerweise sind es die Eltern, die ihre Kinder vor der harten Realität beschützen. In diesem Film ist es der Junge, der seine Mutter vor der Gesellschaft beschützen muss. Er wird dadurch quasi zu einem Elternteil. Man muss sich das einmal vorstellen: Dem Kind fehlt es nicht nur an der Unterstützung und der Obhut seiner Eltern, sondern es ist auch noch gezwungen, die Verantwortung für seine eigene Mutter zu übernehmen. Ich habe versucht zu zeigen, was bei einer solch schwierigen Mutter-Sohn- Beziehung in Kombination mit einem Kollektiv passiert. Die Gruppe sollte als Mutterfigur schützend die Hände über die beiden legen. Doch auch sie scheitert an ihrer Aufgabe, ist genauso wenig in der Lage, Dvir zu helfen. Dieser lebhafte, strahlende Junge wird so lange gejagt, bis er sich zu der befreienden Entscheidung durchringt, die sein ganzes Leben verändert.
Der Film ist vom israelischen Publikum sehr positiv aufgenommen worden.
shaul: Die Leute dort haben ihn geliebt. Umarmt nahezu.

Hatten Sie damit gerechnet? War nicht zu befürchten, dass es in Israel bei diesem kontroversen Thema zu feindseligen Reaktionen kommt?
shaul: Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde. Natürlich gab es auch Leute, denen der Film nicht gefallen hat. Zwei oder drei Prozent der Zuschauer haben mich gefragt, wie ich es wagen könne, so einen Film zu drehen. Einige haben mir sogar nahegelegt, sofort das Land zu verlassen. Aber die übrigen 97 Prozent waren begeistert.

Sie sind selbst in einem Kibbuz aufgewachsen. Wie viele eigene Erfahrungen stecken in diesem Film?
shaul: Nur, um das zu klären: »Sweet Mud« ist keine gänzlich wahre Geschichte. Zumindest nicht, was die Abfolge der Ereignisse anbelangt. Das heißt, diese Geschichte hat nie so stattgefunden, wie Sie sie im Kino zu sehen bekommen. Die Geschichte handelt nicht zwangsweise von mir selbst. Obwohl man vielleicht diesen Schluss ziehen könnte, weil am Ende des Films ein Gedicht meiner verstorbenen Mutter zu lesen ist. Dem ist aber nicht so.

Dennoch basiert der Film auf wahren Begebenheiten?
shaul: Nicht alle Dinge, die ich in »Sweet Mud« zeige, entsprechen der Realität, aber vieles ist wirklich passiert. Ich muss leider sagen, dass ich kaum eines der Geschehnisse frei erfunden habe. Sie haben alle einen realen Hintergrund. Ich bin in den 70er-Jahren in einem Kibbuz im Süden Israels aufgewachsen. Meine Mutter und mein Vater waren eifrige Mitglieder des Kollektivs. Aber dann ist ihre Welt nach und nach zusammengebrochen. Zuerst ist meinem Vater etwas zugestoßen und er ist gestorben. Meine Mutter hat ihren Sohn langsam verloren. Ich bin in einer Gesellschaft groß geworden, in der sich Mutter und Sohn voneinander entfremden.

Verspüren Sie manchmal Wut, wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken?
shaul: Das habe ich viele Jahre lang getan. Aber mehr als Wut spüre ich Trauer in mir. Es tut weh, wenn ich an meine Jugend im Kibbuz denke. Glücklich war ich dort nicht. Aber wahrscheinlich waren diese Erlebnisse auch ausschlaggebend, dass ich Filmemacher geworden bin. Meine Mutter hat mir als Kind immer gesagt: Eines Tages wird die ganze Welt deine Geschichte hören. Und jetzt ist das tatsächlich wahr geworden. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages wirklich Filmemacher werde und mit französischen, japanischen und deutschen Produzenten so ein Projekt auf die Beine stelle. Es ist unglaublich.

Haben Sie mit dem Film ihre traumatischen Erlebnisse aufarbeiten können?
shaul: Es war schon ein therapeutischer Film für mich. Er half mir, die Beziehung zu meiner Mutter zu rekonstruieren und sie besser nachzuvollziehen. Außerdem gelang es mir, die Mitglieder des Kibbuz besser zu verstehen. Vor einigen Wochen habe ich den Film auch dort gezeigt und habe Leute vom Fernsehen in Tel Aviv dazu eingeladen. Was soll ich sagen? Sie haben ihn geliebt.

Ihr Film war auch bei diversen Filmfestivals erfolgreich.
shaul: Ja. Nach dem unerwarteten Erfolg in Israel wurden wir nach Toronto und zum Sundance Film Festival eingeladen. Dort ha ben wir den Preis der Jury gewonnen. Danach sind wir nach Berlin gekommen und wurden bei der Berlinale überraschend mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet. So wurden meine Träume, die bewussten und die unbewussten, nach und nach erfüllt.

Der Held des Films, Dvir, ist ein Junge, der kurz vor seiner Bar Mizwa steht. Ist diese Altersgruppe auch Ihr Zielpublikum?
shaul: Eigentlich nicht. Meiner Meinung nach ist »Sweet Mud« kein Film für Kinder. Er ist mehr etwas für Erwachsene. Aber viele 14-, 15- oder 16-Jährige sind heutzutage keine Kinder mehr. Ich hatte vermutet, diese Altersgruppe würde den Film überhaupt nicht verstehen und war überrascht, wie positiv auch junge Zuschauer den Film aufgenommen haben, vielleicht, weil sie sich mit Dvir identifizieren, der ungefähr in ihrem Alter ist. Wenn ich allerdings einen 14-jährigen Sohn hätte, würde ich ihm raten, noch zwei Jahre zu warten, bevor er sich den Film ansieht.

Das Gespräch führte Johannes Bonke.

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