von Vera von Wolffersdorff
Ein dunkelgrau, leger gekleideter Herr, leicht untersetzt, steht ein bißchen verloren im Foyer eines Münchner Kulturzentrums. Es ist ein grauer Wintertag, und der Mann verschwindet fast im diffusen Licht des Foyers zwischen den vorbeieilenden Menschen. In seiner rechten Hand trägt er ein schmales schwarzes Köfferchen. Wie ein Schauspieler, Musiker und Entertainer tritt Jakov Magid nicht auf. Zurückhaltend wirkt er, seine Stimme ist leise. Ein flüchtiger Händedruck. Das Auffälligste an ihm ist sein weißer, sorgfältig gestutzter Bart.
Jakov Magid, 58 Jahre alt, war früher ein Star. 1971 gründete er mit befreundeten Musikern im litauischen Vilnius die Gruppe »Fajerlech«, zu deutsch »Feuerchen«. Die Band spielte jiddische Lieder, ehemals populäre Melodien, die sie in den Familien-Archiven von Freunden und Bekannten sammelten: Oft waren das Vorkriegsaufnahmen aus dem Radio oder alte Platten. Anfangs waren die jungen Leute froh über alles, was sie finden konnten, um sich ihr erstes Repertoire zusammenzustellen. »Die jiddische Sprache stand für uns im Vordergrund, die Bedeutung der Worte war wichtig«, erzählt Magid. »Wir haben versucht, jiddische Texte auszugraben.« Ähnlich der Klesmer-Musik? Nein, Magid schnalzt kurz mit der Zunge und schüttelt den Kopf. Er legt Wert darauf, den Unterschied klarzumachen: Humor und Witz liegt bei der Klesmer-Musik in den Melodien, bei »Fajerlech« ging es um Sprache. »Klesmer-Musik ist ein Teil der jüdischen Musik, aber eben nur ein Teil«, betont Magid.
Zwei Gitarren, Keyboard, Schlagzeug, Saxophon, Klarinette und eine Sängerin – das war die erste Formation seiner Band. Viele sollten folgen: 1971 wanderten zahlreiche Juden aus Litauen aus – auch die Musiker der Gruppe. Neben Magid blieb nur der Schlagzeuger übrig. Doch es fanden sich bald neue Kollegen, und »Fajerlech« hatte rasch Erfolg. »Wir waren jung und hatten viel Energie«, berichtet Magid. »Wir haben auf jüdischen Hochzeiten gespielt und hatten schnell Fans. Man hat auf uns wie auf Helden geschaut.«
Lange her ist dies alles, und das weiß niemand besser als Jakov Magid. Wenn er von damals erzählt, gestikuliert er engagiert. Er verliert beim Sprechen den Faden, schweift mit seinen Gedanken ab und fängt an einer anderen Stelle seines Lebens wieder neu an zu berichten. So vieles, das er unbedingt sagen will: Hinter allem spürt man das Bemühen, in dem fremden Land, in dem er seit acht Jahren lebt und das ihm trotzdem nicht vertraut ist, die eigene Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten. Beinahe exotisch wirkt der Versuch, die Zeit der sowjetischen Diktatur durch Geschichten wiederaufleben zu lassen – und was es damals bedeutete, eine jüdische Band zu sein: Auftrittsverbote waren an der Tagesordnung. Einmal gewann die Gruppe einen Preis bei einem Wettbewerb der kommunistischen Jugendorganisation. Eine Konzerttournee durch Weißrußland war der versprochene Gewinn. »Und ich war in Minsk bei einer Mitarbeiterin vom Kulturministerium, und wir besprachen die Tournee durch sieben große Städte«, erinnert sich Magid. »Dann sah sie unser Plakat und wurde ganz rot. Sie las ›Jüdische Musik‹ und stutzte plötzlich. Wieso ›jüdisch‹? Die Gruppen sind doch ohne Nationalität! Da habe ich gesagt: Wieso? Es gibt jüdische Lieder – und es gibt auch jüdische Musik. Da wurde sie plötzlich hektisch und sagte: Jetzt ist Mittagspause, kommen Sie in einer Stunde wieder. Eine Stunde später kehrte ich zurück, sie kam freudestrahlend auf mich zu und sagte: Mein lieber Freund aus Litauen, leider sind alle Säle, in denen die Tournee stattfinden sollte, schon besetzt. Ein Festival. Dann machen wir es zwei Tage später, sagte ich. Nein, meinte sie, alle Säle sind besetzt – den ganzen Monat lang.«
Aber es gab auch die anderen, so viel wichtigeren Erlebnisse. Magid schwärmt von Auftritten in weißrussischen Städten, in denen viele Juden lebten, die jahrzehntelang kein Jiddisch mehr gehört hatten: »Du stehst auf der Bühne und siehst die Tränen in den Augen der Zuschauer. Sie kommen nach dem Konzert und sagen, sie sind glücklich, denn sie haben nach 20 Jahren endlich wieder etwas Jüdisches gesehen. Etwas, von dem sie gar nicht wußten, daß es das noch gibt.«
Mitte der 80er Jahre übernahm Jakov Magid die Leitung der Show- und Varieté-Truppe »Frejlech« (»Fröhlichkeit«). Sie wurde von der Philharmonischen Gesellschaft von Birobidschan finanziert und war das erste professionelle jüdische Ensemble in der Sowjetunion. »Wir hatten bei jeder Vorstellung mindestens 700 Zuschauer. Große Bühnen gab es ja in der Sowjetunion genug«, meint Magid mit leicht süffisantem Unterton. Das Ensemble ging immer wieder auf Tournee – jahrelang. Die Gruppe wurde sogar im Staatsfernsehen gezeigt. »Daran erinnern sich die Leute noch heute« sagt Magid stolz. Eine Zeit lang lebte er mit dem Ensemble in Moskau, denn dort war schließlich das künstlerische und kulturelle Zentrum der UdSSR. Aber es zog ihn dann doch wieder zurück nach Vilnius.
Die Wende 1991 erlebte Magid in Litauen. »Juden bekamen mehr Freiheiten, für mich war das gut.« Er übernahm verschiedene Ämter, saß im Stadtrat und wurde Vize-Vorsitzender der jüdischen Gemeinde – schließlich war er ein angesehener Mann in Vilnius. Doch eigentlich interessierte er sich nur für Musik und Kultur und wollte sich auf Dauer nicht politisch betätigen. Dumm war er, sagt er heute. Er habe nicht begriffen, daß er vorsorgen mußte: sich eine zweite Existenz aufbauen. Er spricht nicht gern darüber. Permanent klopfen seine Finger auf einen Prospekt, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Ganz offen hingegen redet er über seine Motive, nach Deutschland auszuwandern: »Ich war in Litauen sehr bekannt, ich habe im Fernsehen eine jüdische Sendung moderiert. Aber ich habe nicht für die Zukunft vorgesorgt. Und die Jahre vergingen. Eines Tages war ich 50. Rente gibt es so gut wie keine in Litauen – da bekam ich Angst. Und Deutschland hatte für jüdische Einwanderer die Grenzen geöffnet.« Und dann war da eben sein Stolz. Es gab Leute, »Verehrer«, wie er sagt, die ihm halfen, eine CD zu veröffentlichen. Aber sie verkaufte sich nur rund zwanzigmal – in einem ganzen Jahr. Magid hatte in Litauen einen Ruf zu verlieren. Er wollte den Leuten dort als Held in Erinnerung bleiben, fand sich aber selbst beinahe auf dem absteigenden Ast: »Ein, zwei Jahre mehr und ich wäre dort pleite gegangen, und das wollte ich nicht. Wenn ich jetzt nach Litauen komme, bin ich immer im Fernsehen, ich bin beliebt, und ich bin noch derselbe Jakov Magid, der Held. Denn ich bin nicht abgestürzt.« Er freut sich über seinen gelungenen Coup, wenn er beschreibt, wie seine Besuche in der Heimat heute aussehen. Man merkt ihm an, daß er sich in seiner bayrischen Wahlheimat nicht zu Hause fühlt. Natürlich macht er noch Musik, er spielt mit verschiedenen Musikern, tritt auf kleinen Bühnen auf. Doch Wehmut schwingt in seinen Worten mit.
Seit 1998 lebt Jakov Magid in München, seit ein paar Jahren ist er wieder verheiratet. Die Tochter aus erster Ehe studiert Soziologie in Beerschewa. Sie ist 25 Jahre alt und möchte in Israel bleiben.
Was wünscht er sich für die Zukunft? »Gesundheit und daß es ruhig ist in der Familie. Und ich möchte gern ein neues Programm vorbereiten«, sagt er. Nach einer kleinen Pause fügt Jakov Magid hinzu: »Das Gefühl, zu etwas nütze zu sein, gebraucht zu werden – dieses Gefühl ist sehr wichtig für einen Künstler.« Musik ist immer sein Leben gewesen. Auch jetzt: Regelmäßig spielt er in einem jüdischen Restaurant – oder tritt bei privaten Festen auf. Dabei kommt er ziemlich herum: Im vergangenen Sommer hatte er 32 Auftritte in 30 Tagen. »Da bin ich zufrieden«, meint er grinsend. Ein bißchen melancholisch sieht sein Lächeln aber aus.