von Annette Wollenhaupt
Mira Raiz könnte vermutlich auf vieles verzichten. Auf ihren schwarzen Yamaha-Flügel, der gut ein Drittel ihres kleinen Wohnzimmers ausfüllt, aber gewiß nicht. Musik ist ihr Leben. Eine Existenz ohne die weißen und schwarzen Tasten, ohne Beethoven, Haydn und Brahms, dessen Musik sie über alles liebt, ist kaum vorstellbar. An Brahms rührt sie »die Tiefe und Innigkeit«. Von sich selber sagt Mira Raiz: »Mein Spiel ist wie ein Gebet.« Sie denkt an früher, an Kiew, das so viele Jahre ihr Zuhause war. Sie sagt: »Leider haben wir dort zu Gott keinen Zutritt gehabt!«.
»Wenn ich aufwache, bin ich schon dort«, sagt die 80jährige und zeigt vom Sofa aus auf den Flügel. »Alltägliche Sachen mache ich, weil es sein muß«, sagt sie, »doch erst wenn ich spiele, öffnet sich meine Seele und beginnt mein Leben.« Manchmal tritt sie solistisch auf, manchmal gemeinsam mit der Geigerin Henryka Tronek als Duo Bacewicz. Dann gibt es noch die Auftritte zu dritt. Dafür holen sich die beiden Musikerinnen den Cellisten Christof Herfurth hinzu. Sie nennen sich dann »Frankfurter Klaviertrio«. Mira Raiz gibt zudem Klavierunterricht. Zwei ihrer Schüler haben bereits Preise gewonnen: der heute 17jährige Jan Mundo und die neunjährige Ava Moamer. »Wenn Kinder begabt sind und auch noch das Interesse da ist, dann ist es ein ganz besonderes Vergnügen, sie zu unterrichten«, sagt Mira Raiz. Zu ihren Schülern zählen auch zwei reifere Damen. Das Zusammensein mit ihnen hat seinen eigenen Reiz. Man könne sich Historisches erzählen, mit ihnen sei ein intellektueller Austausch möglich.
Bereits als junge Frau gab Mira Raiz Klavierunterricht. Ihre Schüler und Schülerinnen sind auf der ganzen Welt verstreut. Zu manchen steht sie bis heute in Kontakt. Und ihr Rat ist immer noch gefragt. Eine ehemalige Schülerin etwa, die heute in Milwaukee lebt und selber Klavierstunden gibt, ruft mitunter mitten im Unterricht an, läßt Mira Raiz über Telefon mithören und bittet sie um Kommentierung des Spiels. Und wenn die ehemalige Schülerin Noten braucht, packt Mira Raiz diese kurzerhand in einen Briefumschlag und schickt sie per Luftpost in die USA. Viele Länder hat die 80jährige bereist, seitdem sie Kiew 1989 verließ. Frankreich, Portugal, Ägypten, Schweden, Norwegen und Dänemark fallen ihr spontan ein, es dürften noch mehr gewesen sein. Aus jedem Land, jeder Stadt hat sie als Souvenir ein Vögelchen mitgebracht. Es sind inzwischen wohl hundert kleine Figürchen, die auf dem Regal über ihrem Fernseher versammelt sind.
In Mira Raiz’ dickem, prall gefüllten Fotoalbum stecken viele Erinnerungen: Reiseimpressionen und vergilbte Fotografien, die von ihren Jugendjahren erzählen, als sie, wie sie selber sagt, »noch jung und schön war«. Da gibt es einen kleinen Halbakt und ein Foto aus dem Jahr 1956, das sie mit ihrem damals sechsjährigen Sohn Boris zeigt beim Baden im Schwarzen Meer. Heute ist er Künstler, singt, schreibt Gedichte, illustriert die eigenen Bücher, malt und fotografiert. Er beschäftige sich mit religiösen und philosophischen Themen, erzählt seine Mutter. Er lebt mit Frau und Sohn in Verona. Ein jüngeres Foto auf dem Couchtisch zeigt ihn mit großer Brille und Schirmmütze.
Mondän wirkt Mira Raiz auf einem der vielen Fotos im Album. Sie sitzt auf einer Parkbank, eingehüllt in einen Wintermantel mit Fuchspelzkragen, auf dem Kopf ein breitkrempiger Hut, der letzte Schrei, auf dem tadellos frisierten Haar. Damals war sie Ende 20. »Ich hatte eine Modenschau am Klavier begleitet und mir von dem Lohn einen alten Mantel aufarbeiten lassen – und mir den Fuchs geleistet.« Mode sei ihr wichtig. »Unbedingt«, sagt Mira Raiz. »Meine Schuhe habe ich persönlich beim Schuhmacher bestellt – immer mit hohen Absätzen!«
Ein zarter Zauber liegt über jenem kleinen Foto, das Mira Raiz eng an ihren langjährigen Mann, den Vater ihres Sohnes, geschmiegt zeigt. »Liebe mit geschlossenen Augen«, sagt Mira Raiz leise. Schaut man genau hin, sieht man, daß nur die Lider der jungen liebenden Frau gesenkt sind. »Was bleibt von so einer Liebe?«, fragt sie und erzählt, daß sie nach 25 Jahren wegen einer anderen verlassen wurde. Ihr Mann war Porträtfotograf. Nach der Trennung fing sie selber an zu fotografieren. Damals lebte sie mit Mutter, Sohn und Schwiegertochter mitten in Kiew in einer Kommunalka, einer Zwangs-WG, die sie sich zu zwölft teilen mußten. Immer wenn das kleine fensterlose Bad frei war, wurde es zur Dunkelkammer umfunktioniert, und Mira Raiz entwickelte ihre Schwarzweißfotos.
In Kiew ist sie seit ihrer Auswanderung nach Deutschland nicht mehr gewesen. »Das ist alles sehr traurig«, sagt sie. Von ihren Freunden und Bekannten lebe inzwischen fast niemand mehr dort. Die Stadt sei zwar dieselbe geblieben, doch es fehlten die bekannten Gesichter, »die Zeugen von meinem Leben, meiner Jugend«. Das einzige, was sie in Gedanken hinziehe nach Kiew, sei das Grab der Eltern. Der Vater, ein Arzt, fiel im Krieg. Ihre Mutter pflegte Mira Raiz bis zum Schluß. »Beide haben hart gearbeitet.« Sie förderten das Talent ihrer Tochter, ließen sie zuerst Privatstunden nehmen, später Unterricht in der Musikschule für begabte Kinder am Kiewer Konservatorium.
»Wir haben Musik gemacht, aber unsere Gedanken waren woanders.« Da war lange Zeit die Ungewißheit um das Schicksal des Vaters. Und als das Mädchen Mira erfuhr, daß er verschollen ist, mußte sie das allein mit sich ausmachen. »Hätte ich es meiner Mutter erzählt, sie wäre sofort gestorben.« Mira war die Stütze der Familie, ihre Mutter nur Haut und Knochen. Geholfen hat ihr die Musik: das gemeinsame Üben mit den Freundinnen, das gegenseitige Vorspielen und die Konzertbesuche – die vor allem dann Freude bereiteten, wenn das Moskauer Sinfonieorchester gastierte und sie Freikarten bekamen. »Wir waren wie eine Familie«, sagt sie. Aber für eine richtige Kindheit sei in diesem Leben nicht viel Platz gewesen.
1989 kam Mira Raiz nach Frankfurt. »Ich war die erste russische Jüdin, die hier ankam, es gab noch keine offizielle Regelung, keine Unterstützung, keine Sozialhilfe, keine Wohnung.« Um sich über Wasser zu halten, betreute sie im Jüdischen Altenheim eine Schlaganfallpatientin und wohnte bei ihr in einem kleinen Zimmer. Später begleitete sie Tänzerinnen in einer Ballettschule am Klavier und trat schließlich eine Stelle als Klavierlehrerin an der Musikschule Taunus in Nieder-Eschbach an. Eine Beschäftigung, der sie bis heute nachgeht.
Deutsch lernte die alte Dame, indem sie Krimis las. »Das war leicht und spannend.« Das schlimmste in den ersten Jahren in Deutschland war die Unsicherheit. »Ich mußte alle drei Monate meine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen.« Viel geholfen habe ihr die Jüdische Gemeinde Frankfurt. »Sie öffnete Herzen und Türen« und half auch in materieller Hinsicht. Doch in die Synagoge geht Mira Raiz nur zu Neujahr. »Dann spreche ich mit Gott und bitte um Gesundheit für die Kinder und Ruhe für die Welt.«
Die 80jährige bezieht die Evrejskaja Gazeta, eine jüdische Zeitung in russischer Sprache. Mit Interesse liest sie die in jeder Nummer erscheinenden Tora-Übersetzungen samt Erklärungen. Mira Raiz genießt die Freiheit, sich ganz offen mit Fragen zur Religion beschäftigen zu können. »In Kiew war so etwas kriminell.«
Die alte Dame hat Pläne. Gemeinsam mit einem Schauspieler möchte sie eine literarisch-musikalische Veranstaltung zu Mendelssohn und Heine vorbereiten. »Beide waren Zeitgenossen, bestimmt gibt es gemeinsame Wurzeln und Begegnungen.« Gedichte und Lieder hat sie bereits zusammengetragen. Es wäre keine gänzlich neue Erfahrung, einen musikalisch untermalten Rilke-Abend gab es bereits.
Auch wenn sie die Musik seit jeher über alles liebt, stellt Mira Raiz doch an sich auch eine Veränderung fest. »Gemälde hinterlassen in den letzten Jahren bei mir noch stärkere Eindrücke als Musik. Vielleicht weil sie einfach schon immer zu meinem Leben dazu gehörte und die Malerei etwas Neues für mich ist.«
Ob sie je traurig darüber gewesen sei, nicht die ganz große Musikkarriere gemacht zu haben? Was für eine Frage. »Es geht nicht um Karriere«, lautet ihre Antwort. »Der Weg ist süß. Mich interessiert nur das, was die Musik meiner Seele gibt«, sagt Mira Raiz.