von Barbara Link
Chopin ein Salon-Komponist? »Schmarrn«, entfährt es Simon Gourari in typisch bayrischer Unbeirrbarkeit. Sonst wägt der 58jährige erst sorgfältig jedes Wort. Gelehnt an einen der drei Flügel in seiner Wohnung, die gleichzeitig auch Klavierschule ist, sucht er in konzentrierten Pausen nach passenden Nuancen. Der Musikkritiker Gourari war bekannt für seine geschliffenen Rezensionen. Der Schriftsteller Gourari wurde viel gelesen. Sein Wort als Vize-Präsident des Kasaner Konservatoriums, als langjähriger Leiter der Klavierklasse, als Festival-Veranstalter hatte Gewicht. Und doch hat er Kasan verlassen.
Wenn Gourari Kasan erwähnt, sagen viele, ach Kasachstan. Dann wundert er sich, wie unbekannt doch im Westen die Hauptstadt der Republik Tartarstan ist. Schließlich ist es eine Millionenstadt.
Im Frühjahr 1990 nahm Simon Gouraris Tochter Anna am Internationalen Chopin-Wettbewerb in Göttingen teil. Vater und Mutter begleiteten das Mädchen. Simon Gouraris ungläubiges Erstaunen damals ist noch heute in seiner Erzählung zu spüren. »Wir kannten niemanden in der Jury und haben trotzdem gewonnen.« Nicht, daß er am Können seiner Tochter gezweifelt hätte. Nein, fremd war ihm die Tatsache, daß da ohne Ansehen von Nationalität, Namen und Beziehungen entschieden wurde, das kannte Gourari nicht.
Simon Gourari war an ständige Beobachtung, an Reglementierung, an Diskriminierung gewöhnt – von klein auf. 1946 wird er in Riga geboren. Sein Vater ist Ingenieur, die Mutter Krankenschwester. Beide sind Kommunisten, erziehen Simon und seine Schwester nicht religiös. Der Vater wird mehrmals versetzt, unter anderem nach Moskau und nach Kasan. Den Arbeitsplatz bestimmt die Partei. »Meine Mutter hat sich immer gewünscht, daß ich Musiker werde«, erinnert sich Gourari. Das Talent des Sohnes zeigt sich früh, und er feiert Erfolge bei Klavier-Wettbewerben. Mit sieben Jahren wird Simon zum ersten Mal von Klassenkameraden als »Jude« beschimpft. Die Lehrerin bestraft ihn für eine Schlägerei, die er gar nicht angezettelt hat. »Da habe ich zum ersten Mal verstanden, daß ich anders bin.« Untereinander sprechen die Eltern manchmal jiddisch, den Kindern bringen sie es aber nicht bei. Zu groß ist die Angst.
Trotzdem pflegen sie einen der jüdischen Bräuche. »Kurz vor Pessach klingelte immer das Telefon«, erinnert sich Gourari. Ein alter Mann war am Apparat. Er sprach mit leiser Stimme, seinen Namen nannte er nie. Heimlich hatte er Mazzen gebacken und im Telefonbuch nach jüdischen Namen und damit nach möglichen Abnehmern gesucht. Gouraris gehörten jedes Jahr zu den Käufern.
Als 13jähriger wird Simon Gourari in die musikalische Fachschule aufgenommen. Sein Klavierstudium absolviert er am Kasaner und am Moskauer Konservatorium bei Emmanuil Monassohn und Yakov Flier. Noch während des Studiums heiratet er seine Kommilitonin Ludmilla Didenko. Mit 22 Jahren wird er Lehrer an der Musikhochschule in Kasan. Fünf Jahre später kommt Anna zur Welt.
Das große Talent seiner Tochter läßt in Gourari den Entschluß reifen, das Land zu verlassen. »Ich habe gesehen, daß sie mit ihrem jüdischen Namen keine Zukunft mehr hatte.« Sicher, er hätte Anna den russischen Namen ihrer Mutter geben können. Doch mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der seine Eltern damals zu Pessach Mazzen kauften, hält Simon Gourari an dem Namen fest. Nicht aus religiöser Überzeugung, auch nicht aus dem Gedanken einer Schicksalsgemeinschaft heraus. Er beschäftige sich im Alltag nicht mit seinem Judentum, sagt er. Es werde ihm aber bewußt, wenn er eine Diskriminierung anderer oder gar seiner selbst spüre. Er hält es mit dem französischen Philosophen und Lyriker Paul Valéry: »Ich su- che den Glauben nicht, ich vermeide ihn aber auch nicht.«
Obwohl Anna 1986 beim russischen Kabalewsy-Wettbewerb den 1. Preis gewinnt, darf sie bei einer Schulaufführung des Orchesters nicht mitspielen. Ihr Vater ist derartige Benachteiligungen zwar gewohnt. Er hat es selbst erlebt, von einem Konzert ausgeschlossen zu werden, weil schon der Dirigent Jude war. Und er weiß, daß unter seinen Studenten KGB-Spitzel sind und daß sein Büro abgehört wird. Aber Gouraris Grenze ist erreicht, als er merkt, wie sehr der Antisemitismus die Karriere seiner Tochter behindert. Als Anna vor der Schule beinahe vom KGB abgefangen wird, ist für ihn klar: »Lieber verliere ich alles, bevor meine Tochter meinen Weg wiederholt.«
Als der Chopin-Wettbewerb in Göttingen zu Ende ist, beschließt die Familie nach langen Diskussionen, in Deutschland zu bleiben. Mit dem Preisgeld und ihren zwei Koffern fahren sie nach München. Noten, Bücher, Instrumente – alles lassen sie in Kasan zurück. Gourari beantragt politisches Asyl. Es folgen 14 schwere Monate, erst im zentralen Auffanglager, dann in einer Asylbewerber-Unterkunft an der Leopoldstraße. Anna Gourari wird ohne jegliche Deutschkenntnisse an der Musikhochschule angenommen. Nach einigen Briefen der Münchner jüdischen Gemeinde darf sie mit einer Ausnahmegenehmigung studieren und auch zu Konzerten reisen.
Noch im Asylbewerberheim gründet Gourari zusammen mit sieben anderen Kunstinteressierten den Verein »Dialog – Neues Münchner Kunstforum«. Die Entdeckung und Förderung junger Talente ist sein Hauptanliegen. Inzwischen hat der Verein über 400 Veranstaltungen organisiert und zum sechsten Mal den Internationalen Wettbewerb »Klavierpodium der Jugend« ausgerichtet.
Als dem Asylantrag stattgegeben wird, hört Gourari von Freunden, daß in der Au die Wohnung eines Toningenieurs zu vermieten ist – mit einem schallisolierten Zimmer: prädestiniert für die drei Pianisten. Das Gespräch mit dem Vermieter verläuft freundschaftlich, und Gourari ist optimistisch, den Zuschlag für die Wohnung zu bekommen. Doch beim Hinausgehen sieht er die lange Schlange der anderen Bewerber und verliert fast den Mut. Was hat er schon an Sicherheiten zu bieten? Der Vermieter sucht noch einmal das Gespräch mit ihm. Er möchte die Familie besuchen. Dichtgedrängt ißt man zusammen in der acht Quadratmeter großen Unterkunft. Gourari bekommt die Wohnung. Er fragt den Vermieter nach dem Grund. »Die anderen haben irgendeine Wohnung. Sie haben gar keine«, ist die Antwort.
Alles ist neu: das Land, die Stadt, die Mentalität, die Gesellschaft. Familie Gourari rückt noch enger zusammen. Eines Abends in der Dämmerung rührt Simon Gourari einen Topf Kleister an, und zusammen mit seiner Frau klebt er Plakate in der Umgebung. »Gourari-Klavierschule« steht schlicht auf hellgrauem Papier. Ein Exemplar hängt heute noch im Übungsraum. Die ersten Schüler wohnen um die Ecke. Der Rest ist Mundpropaganda. Gourari sagt: »Ich war bereit, auf die Nase zu fallen.« Heute kommen seine Schüler von weither angereist. Über 30 Siege und Auszeichnungen haben sie mittlerweile errungen, bei nationalen Wettbewerben wie »Jugend musiziert« und auch im Ausland. Für Tochter Anna bedeutet der Gewinn des Clara-Schumann-Wettbewerbs 1994 in Düsseldorf den internationalen Durchbruch. Heute ist sie 32 und gilt weltweit als eine der führenden Pianistinnen.
Die vielen Auszeichnungen, unter anderen der Echo-Preis 2001 als »Instrumentalistin des Jahres«, das Lob der Kritiker – alles freut Gourari. »Doch die größte Anerkennung ist, daß sie am Klavier das aussprechen kann, was ich mir immer gewünscht habe. So wie sie spielt, so muß Musik klingen!«
Gourari und seine Frau sind oft im Ausland. »Aber wenn wir nach Deutschland zurückkommen, dann fühlen wir uns zu Hause«, betont er. »Meine Frau und ich hatten ein Ziel: Diese Gesellschaft zu verstehen und uns zu integrieren. Und das ist uns einigermaßen gelungen.«