Es hat Tage in meinem Leben gegeben, da habe ich mich gefragt, ob es wohl richtig war, was wir getan haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, in Russland zu bleiben? Dort wurden wir gebraucht.
Nach dem Studium in Moskau hatte ich 25 Jahre als Arzt in der Psychiatrie gearbeitet, zuletzt leitete ich eine große Klinik. Meine Frau war Rechtsanwältin und in ihrem Beruf erfolgreich. Aber wir hofften auf eine bessere Zukunft für unseren Sohn, und so gingen wir vor fast sieben Jahren nach Deutschland.
Hier habe ich zunächst als Assistenzarzt in der Praxis eines Kölner Psychotherapeuten gearbeitet. Irgendwann hörte ich davon, dass es bei der Synagogen-Gemeinde ein Vertrauenstelefon gibt, und da habe ich mich dem ehrenamtlichen Team angeschlossen. Das Vertrauenstelefon ist eigentlich Telefonseelsorge. Denn auch hinter simplen Informationsfragen verbergen sich oft irgendwelche psychologischen Probleme. Eigentlich immer. Zum Beispiel fragt ein Mann: Wie kann ich hier russisches Fernsehen empfangen? Sehr oft kommt dabei heraus: Er fühlt sich einsam, er kann mit niemandem reden.
seelsorge Wir Kölner arbeiten zusammen mit der Düsseldorfer Gemeinde, die als erste in Deutschland ein Vertrauenstelefon auf Russisch ins Leben gerufen hat. Wir stimmen die Dienstpläne miteinander ab und können an allen Wochentagen Anrufe entgegennehmen. Wir träumen von einer bundesweiten jüdischen Hotline. Unsere Bitte an die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden war, das so zu organisieren, wie es auch bei der katholischen oder evangelischen Telefonseelsorge läuft: eine einheitliche und kostenlose Nummer für alle Anrufenden in ganz Deutschland. Die Men- schen können unbegrenzt lange reden und von ihren Sorgen entlastet werden. Die Hotline wäre 24 Stunden besetzt, nicht nur zu bestimmten Zeiten, wie wir es jetzt anbieten können.
offenheit Wir wollten von Anfang an ein jüdisches Vertrauenstelefon machen. Jeder darf anrufen, nicht nur Gemeindemitglieder, auch Nichtjuden. Menschen, die sich jüdisch fühlen oder über jüdische Themen sprechen möchten, müssen eine Chance haben. Manche möchten über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus reden, andere denken darüber nach, zum Judentum überzutreten, wieder andere haben einen Artikel in einer jüdischen Zeitung gelesen und wollen unsere Meinung dazu hören.
Meine Stimme ist inzwischen zu bekannt, deshalb nehme ich keine Anrufe mehr entgegen. Denn sowohl Anrufer als auch Seelsorger müssen anonym bleiben. Zusammen mit meiner Kollegin Stella Schterbatova schule ich die 18 Ehrenamt-lichen aus unserem Team und mache die Supervision. Wir merken aber, dass die Menschen mit einer anonymen Beratung nicht zufrieden sind. Vor allem die russischsprachigen. Sie stellen sich gleich mit Namen, Adresse und Telefonnummer vor und wollen auch wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie wünschen sich eine Vertrauensperson, zu der sie von Angesicht zu Angesicht offen über ihre Probleme reden können. Deshalb hat die Gemeinde die psy- chologische Beratung auf die Beine gestellt.
nähe Anfangs bekamen wir Mittel vom Europäischen Flüchtlingsfonds, heute trägt es die Gemeinde. Seit zwei Jahren habe ich einen Vollzeitjob und pendele während der Woche zwischen den Gemeindezentren in Porz und Chorweiler und der Synagoge im Zentrum der Stadt. Es ist besser, dort zu sein, wo die Leute wohnen. Wir waren die erste Gemeinde, die eine solche psychologische Beratung angeboten hat. Darauf sind wir stolz, und wir geben unser Know-how gern weiter.
Viele der Menschen, die zu uns kommen, klagen über familiäre Probleme. In der Heimat hatten sie einen gewissen sozialen Status erreicht, den sie durch die Auswanderung verloren haben. In Deutschland fühlen sie sich wie in einer fremden Welt, als ob sie von einem anderen Planeten kämen. Manche von ihnen entdecken plötzlich, dass sie ihren Ehepartner nach zig gemeinsamen Jahren nicht wirklich kennen. Sie verstehen nicht, wie der andere auf die neuen Bedingungen reagiert.
konflikte Die Kinder lernen viel schneller die fremde Sprache und sind bald in vielen Bereichen kompetenter als ihre Eltern. Die bleiben zurück, leben in der Vergangenheit, werden von den Kindern abhängig. Sie müssen die Kinder bitten: »Ruf da und da an, begleite uns dorthin.« Das Kind fühlt sich überlegen, die Eltern können ihm nichts mehr verbieten, nichts mehr raten. Die Jüngeren finden dann ihr eigenes Millieu, die Eltern kapseln sich zu Hause ab, viele interessieren sich nur für den Alltag, fürs Fernsehen und Einkaufen. Sie hören auf, Bücher zu lesen, verlieren die Lebensfreude.
Ein großes Problem vieler Zuwanderer ist die vergebliche Suche nach Arbeit. Ein hochqualifizierter Spezialist kann sich nicht auf eine primitive Tätigkeit umstellen. Das ruft eine mächtige Protestreaktion hervor, die sich durch psychosomatische Symptome äußern kann, zum Beispiel durch hartnäckige Magenschmerzen. Die Patienten laufen dann jahrelang von einem Arzt zum anderen, und keiner findet die Ursache. Solche Fälle erlebe ich jeden Tag.
Deshalb ist unser Projekt so populär. Hier muss man sich vier Wochen im Voraus anmelden, so lang ist die Warteliste. Für ein Gespräch nehmen wir uns eine Stunde Zeit, manchmal auch mehr. So habe ich an einem Arbeitstag zwischen 8.30 Uhr und 17.30 Uhr um die sieben Termine, manchmal bis zu zwölf.
In unserem Gemeindeblatt führe ich die Rubrik »Der Psychologe antwortet« auf Russisch und Deutsch. Es geht um Heimweh, Depressionen, Altern, Stress, die Kommunikation innerhalb der Familie. Einmal hatte ich ungefähr drei Monate lang ausgesetzt, weil das Blatt zu voll mit anderen Informationen war. Da gab es viele Anrufe und Leserbriefe, die nach einer Fortsetzung verlangten.
distanz Ich habe das seltene Glück, meine Arbeit zu lieben und dafür auch noch bezahlt zu werden. Aber es ist nicht einfach, sich tagaus, tagein die Probleme anderer Leute anzuhören. Manchmal kann man sich davon distanzieren, manchmal löst man sich darin auf. Einer meiner Lehrer sagte früher: »Die einzige Möglichkeit, sich selbst zu erhalten, besteht in der Fähigkeit umzuschalten.«
Ich versuche es, aber es gelingt nicht immer. An manchen Abenden komme ich nach Hause und denke bis zum Schlafengehen immer noch nach, ob ich wohl auch alles richtig gemacht habe. Nur dank der Familie habe ich die Kraft zu arbeiten.
psychoanalyse Es freut mich, dass ich die Klassiker der Psychoanalyse, Sigmund und Anna Freud, inzwischen im Original lesen kann. Zu sowjetischer Zeit galt es fast als kriminell. Das durfte man nur in einer abgetrennten Ecke der Bibliothek und nur mit spezieller Erlaubnis. Um damals das Buch auszuleihen, musste ich meinen Pass abgeben. Keiner durfte mich dabei beobachten, denn das konnte große Schwierigkeiten machen. Und heute darf ich es ganz frei lesen.
wochenende In meiner Freizeit habe ich keine festen Termine, kein System. Es hängt alles von der Stimmung, dem Befinden ab. Ich gehe auch nicht jede Woche in die Synagoge, aber immer dann, wenn ich in der Stimmung dazu bin, und natürlich an den Feiertagen. Am Wochenende improvisieren wir oft, und manchmal ergeben sich daraus die schönsten Überraschungen. Vor Kurzem waren wir zu Be- such bei Freunden in Paderborn. Wir unternahmen zusammen eine Fahrradtour, und plötzlich landeten wir mitten in ein Reitturnier. Das war so schön, so bezaubernd, dass uns vier Stunden wie Minuten vorkamen!
Die Komponenten des Glücks sind einfach: eine interessante Arbeit, eine intakte Familie und gute Freunde. Ich hoffe, alles bleibt so lange wie möglich wie es ist, ohne große Erschütterungen.