von Matilda Jordanova-Duda
Elena Kotchanova hat seit Kurzem einen MP3-Player – und freut sich über das dicke Begleitheft. Was die meisten Leute wie die Pest hassen, tut die 63-jährige jung gebliebene Dame besonders gern: Gebrauchsanweisungen lesen. Als sie vor sechs Jahren nach Bonn kam, war ihre erste Lektüre auf Deutsch die technische Information zum neuen Telefon: Das Gerät hatte viele unbekannte Funktionen und ein umfangreiches Handbuch. Dank der Bilder und dem englischen Text entzifferte die Käuferin bald die deutschen Infos. Später tat sie es mit der Mikrowelle, dem Fernseher, dem Internetanschluss. Wenn sie eine neue Anwendung ausprobieren will, liest sie die Gebrauchsanweisung, bis sie es verstanden hat.
Früher habe der Vater oft gemahnt: »Mädchen, du musst mehr Mathematik und Physik lernen«, erinnert sich Elena Kotchanova. Dies sei ihr auch nicht schwer gefallen, die Naturwissenschaften fand sie spannend. In ihrem hoch industrialisierten Ge- burtsort Nischnij Tagil am Ural standen die »genauen Wissenschaften«, wie die Russen sie nennen, hoch im Kurs. Zahlreiche Forscher wurden im Zweiten Weltkrieg dorthin verschickt, um weit weg von der Frontlinie in geheimen Labors neue Militärtech- nologien zu entwickeln. Viele von ihnen waren Juden wie die Eltern von Elena Kotchanova. Sie selbst wurde – nein, keine Ingenieurin wie Mutter und Vater und wie die Leidenschaft für Gebrauchsanweisungen vermuten ließe, sondern Kardiologin.
Ob wegen der vielen Intellektuellen oder wegen der politischen Verbannten – die Atmosphäre in der Stadt am Ural sei liberaler gewesen als andernorts in der Sowjetunion, erinnert sich Kotchanova. Auch Antisemitismus habe es dort nicht gegeben. Unter der sowjetischen Form von Antisemitismus habe eigentlich nur ihr russischer Ehemann, ein Journalist und Spezialist für den Fernen Osten, gelitten. Wegen der jüdischen Frau habe ihn die Fernsehleitung lange nicht ins Ausland gelassen, obwohl er bestens dafür qualifiziert gewesen sei. Und dann sei der erste Einsatz in Bangladesch gewesen, einem so armen Land, »dass sich die Jüdin sicher nicht absetzen würde«, schmunzelt Elena Kotchanova.
»Unser Leben war nicht typisch für sowjetische Leute«, sagt sie. Ihr Mann berichtete für den ersten Kanal des sowjetischen Fernsehens aus Südostasien. Elena Kotchanova zog mit ihm, schließlich wohl als vertrauenswürdig eingestuft, als Ehefrau und Redaktionsassistentin für mehrere Jahre nach Kambodscha und Vietnam, besuchte Thailand, Laos und Singapur. Die beiden sahen mit an, wie die Roten Khmer aus den Dschungeln um Phnom Penh allmählich verschwanden, wie sich Vietnam vor ihren Augen von einem sozialistischen Land in eine Marktwirtschaft verwandelte. Buddhas, geschnitzte Opiumpfeifen und Stickereien zieren die Plattenbauwohnung im Bonner Norden: Zeugnisse einer exotischen Vergangenheit.
Zurück im Moskau des Jahres 1993 fanden sich die Kotchanovs in einem anderen Land wieder. Aber es war eines, das ihnen gut gefiel: ein junges und freies, so schien Jelzins Russland damals, und die Zukunft voller Perspektiven. Der plötzliche Tod des einzigen Sohns, eines vielversprechenden Regisseurs, änderte alles. Die allein gebliebenen Eltern konnten die Erinnerungen nicht mehr ertragen und beschlossen, so radikal wie nur möglich mit der Vergangenheit zu brechen. Das hieß: auswandern. In Deutschland bot sich die Chance eines Neuanfangs an.
Dieses bewegte Leben ist mit den Erfahrungen der Sowjetbürger sicher nicht zu vergleichen, die vielleicht ein einziges Mal Urlaub im sozialistischen Osteuropa machen durften. In Deutschland gelandet, waren Elena Kotchanova und ihr Mann von den kleinsten Dingen gestresst und wagten nicht einmal, nach der Straße zu fragen, erzählt die Ärztin. »Schreib doch einen Zettel, die Leute werden dir den Weg erklären, notfalls auch zeichnen«, empfahlen ihr Bekannte.
Wie so viele hochqualifizierte Einwanderer aus Osteuropa musste auch Elena den weißen Arztkittel an den Nagel hängen. Nach dem Sprachkurs war sie bereits Ende 50, und das Arbeitsamt wollte keine Umschulung zur Apothekerin oder Apothekergehilfin genehmigen. »Da habe ich verstanden, dass ich mich selbst um meine Inte- gration kümmern muss«, sagt die entschlossene Frau. Und bald hatte sie ein neues Betätigungsfeld gefunden. In Moskau hatte sie jahrelang an einem Forschungsprojekt mit einem Psychologen zusammengearbeitet und einiges dabei gelernt. Viele ältere Migranten, die ihren Beruf nicht ausüben können, sind bedrückt, desorientiert und fürchten den Statusverlust. Sie finden aber keine Hilfe bei den hiesigen Therapeuten – schon allein wegen der schlechten Deutschkenntnisse. »Sie können ihre Gefühle nicht in Worte fassen.« Einige lassen sich aus der Heimat Tabletten schicken und schlucken alles durcheinander, empört sich die Medizinerin. Da sie hier nicht praktizieren darf, versucht sie anders zu helfen: Sie geht mit den Leuten spazieren und redet über ihre Sorgen. »Das beruhigt ein bisschen und macht eine andere Laune.« Wenn die psychische Krise Elenas Kompetenz übersteigt, überredet sie die Depressiven, professionelle Hilfe zu suchen.
»Wir sollten nicht die ganze Zeit irgendwelche Minderwertigkeitskomplexe entwickeln. Wir sollen das tun, was wir können. Ich kann euch helfen. Helft ihr noch jemandem!«, lautet ihr Rezept. Meist sind es Leute von der jüdischen Gemeinde, die sie aufsuchen. Es hat sich inzwischen herum- gesprochen, dass sie das alles kostenlos macht und auch gern Kranke mit den verschiedensten Symptomen zum Arzt begleitet. »Ich kann die richtigen Fragen stellen und die Antwort genauer verstehen.« Ihr selbst mache es Spaß, sagt die 63-Jährige schmunzelnd, »na ja, jedenfalls mehr als den Patienten«.
So fühlt sie sich trotz der Arbeitslosigkeit nützlich. »Ich erspare den hiesigen Institutionen eine Menge Arbeit«, sagt die Ärztin selbstbewusst. Nebenbei pflegte sie jahrelang die alte Mutter und nun den kranken Ehemann. Und sie hat noch einiges vor: Zum Beispiel möchte sie Hebräisch lernen. Wenn man schon nicht arbeitet, muss man dafür sorgen, dass das Ge- hirn nicht einrostet: so, wie sie ihrem schlanken Körper täglich Gymnastik auf dem Balkon verordnet.
Wie die meisten Juden in der ehemaligen UdSSR ist Elena Kotchanova atheistisch aufgewachsen. Erst seitdem sie in Deutschland lebt, identifiziert sie sich mit dem Judentum. Ihr Mann kenne sich – seines Berufes wegen – mit der jüdischen Religion besser aus als mancher Jude und habe auch keine Scheu, in die Synagoge zu gehen. Dort leiht er sich Bücher aus und hält für die Zuwanderer regelmäßig Vorträge über Außenpolitik. Ein Grund mehr, dass die Familie in der Gemeinde recht bekannt ist. Auch unterstütze Elenas Mann ihr neu erwachtes Interesse an der Religion ihrer Vorfahren: Unterricht, die Trennung von Fleischigem und Milchigem, das Feiern von Pessach und Chanukka. Das sei alles noch ein bisschen oberflächlich, meint Elena Kotchanova, aber mit der Religion sei das so eine Sache, »sie sickert in einen hinein, bis sie ganz selbstverständlich wird«.
Bloß, wenn sie demnächst Hebräisch lernt, darf es nicht das Deutsch aus dem Kopf verdrängen, sorgt sie sich. Schließlich hat sie mit der Sprache des Aufnahmelandes erst im reifen Alter von 58 Jahren angefangen. Bis dahin kannte sie einen einzigen Satz auf Deutsch: »Sie ist schön.« Es ist eine Kindheitserinnerung: Nach dem Krieg wurden viele deutsche Gefangene nach Nischnij Tagil gebracht. Klein-Elena, drei oder vier Jahre alt, stand oft im weißen Pelzmäntelchen am Straßenrand und guckte, wie die Kolonnen von der Arbeit zurückkamen. Manchmal nahm sie Kekse mit und warf sie den Männern zu. Von ihren Worten behielt das Mädchen nur diesen einen Satz: »Sie ist schön.« Was das bedeutet, hat sie erst in Deutschland erfahren.
Elena Kotchanova spricht langsam und deutlich, artikuliert bedächtig, sucht nach dem richtigen Wort. Die noch holprige Sprache hat sie jedoch nie davon abgehalten, Kontakte zu Einheimischen zu pflegen. Mit einer deutschen Freundin lernt sie im Tandem. Die Frauen bringen einander ihre jeweilige Muttersprache bei: »eine Stunde Deutsch, eine Stunde Russisch«.
Zu Hause zeigt der Fernseher Nachrichten im Videotext. Den gehen die Eheleute einmal durch, damit sie später den Moderator besser verstehen. Inzwischen liest Kotchanova mehr Bücher, Zeitungen und Fachliteratur auf Deutsch als auf Russisch. Nun fühlt sich die energische Dame fit, ein Buch in ihre Muttersprache zu übersetzen: »Heillose Medizin« von Jörg Blech, eine Warnung vor unnützen, gar gefährlichen Therapien. Einen Verleger sucht Elena noch. Wenn sie keinen findet, möchte sie wenigstens Auszüge in den hiesigen russischsprachigen Zeitungen drucken. Da hat sie bereits einen Artikel über Beipackzettel veröffentlicht. »Damit die Kranken aus Angst vor Nebenwirkungen die überlebenswichtige Medizin nicht in den Müll schmeißen«, sagt sie. Beipackzettel – ach ja, sind die nicht auch so eine Art Gebrauchsanweisungen?