Sonntags schlafe ich aus – all die Stunden nachholen, die im Laufe der Woche verloren gegangen sind. Mein Alltag ist sehr mit Arbeit ausgefüllt. Ich habe an der Freiburger Uni eine Stelle am Institut für Informatik. Ich beschäftige mich mit der Sicherheit von Mikrochips. Auf ihnen sind Millionen von ganz kleinen Baublöcken, und es ist relativ wahrscheinlich, dass mindestens einer davon kaputt ist. Bei meiner Arbeit geht es um Testmethoden, Zuverlässigkeit und Korrektheitsüberprüfung. Das ist eine eigene wissenschaftliche Disziplin.
Dienstags und donnerstags halte ich Vorlesungen. Außerdem muss ich viele Projekte koordinieren. Wir haben einen großen Sonderforschungsbereich, das Finanzvolumen erreicht – verteilt auf ein paar Jahre –fast zehn Millionen Euro. Das ist in der Informatik eine ziemlich hohe Summe, denn wir brauchen ja nicht viel Ausstattung.
Unser Sonderforschungsbereich ist ein relativ großes Projekt: Drei Unis und ein Max-Planck-Institut arbeiten da zusammen. Das ist natürlich schwierig, weil es viele Leute an verschiedenen Orten gibt, die jeweils eigene Vorstellungen davon haben, wie man an die Sache rangeht. Ich betreue einen eigenen Teilbereich. Und bei einem kleineren Projekt mit den Unis Dresden, Stuttgart, Paderborn und einem Fraunhofer Institut bin ich auch konzeptionell verantwortlich.
Bis ich 14 war, lebte ich in Moskau. Dort bin ich geboren. Meine Eltern kamen nach Deutschland nicht als sogenannte Kontingentflüchtlinge, sondern mein Vater – er ist Kulturgeograf – hatte 1991 von der Humboldt-Stiftung ein Stipendium bekommen, um in Freiburg zu forschen. 1994 entschieden sich die Eltern dann, in Deutschland zu bleiben.
Im Jahr davor hatte ich Abitur gemacht und mich danach hier an der Uni eingeschrieben, für Informatik und Mathematik. Ich war Ausländerreferent beim AStA, dem Allgemeinen Studierendenausschuss. Man kann das politisch verstehen, aber ich habe es mehr als soziales Engagement gesehen, als Hilfe für die Leute. Ich habe das gern gemacht – und sogar einen Preis für gesellschaftliches Engagement dafür bekommen, vom DAAD, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst.
Mit zwei anderen Studenten habe ich an einem weltweiten Programmierwettbewerb teilgenommen: Drei Leute bekommen einen Computer, fünf Stunden Zeit und sieben, acht Aufgaben. Die Gruppe, die zuerst fertig ist, hat gewonnen. Vom Prinzip her eigentlich eine nette Idee, man muss gut zusammenarbeiten. Das erste Mal waren wir nicht sehr erfolgreich, aber dann wurden wir Europameister und kamen ins Finale. Wir haben den zweiten Platz belegt, noch vor Berkeley und Harvard.
Als ich fertig war mit dem Studium und meinen Doktor hatte, wollte mein Professor, dass ich an der Uni bleibe. Das war 2003, mitten in diesem Dotcom-Boom. Wenn ich zu einer Firma gegangen wäre, hätte ich finanziell viel mehr bekommen. Aber ich habe mir überlegt: Verhungern werde ich schon nicht, die Uni ist voll von Leuten, die nicht verhungern.
Die Entscheidung für die Uni habe ich nicht bereut. Zuerst war es eine Hiwi-Stelle, dann eine halbe Stelle, dann eine ganze. Das war für mich subjektiv gut. Jetzt kommt es darauf an: Wird es mir gelingen, eine Professur zu bekommen? Das muss nicht morgen oder übermorgen sein, aber in zwei, drei Jahren ist das schon die Frage. Es sind ja viele, die eine Professur wollen, da muss schon einiges passen.
Aber man kann natürlich nicht nur arbeiten. Mittwochs gehe ich immer zu den Proben des Improvisationstheaters »Ungefiltert«. Wir treten öffentlich auf. Das Publikum gibt uns Stichworte, und wir reagieren spontan darauf mit unseren Texten und mit unserem Spiel. Keiner weiß, was passieren wird. Eine spannende Sache.
Wenn ich abends zu Hause bleibe, dann spiele ich manchmal Gitarre, schreibe Gedichte, oder ich lerne für mein Wirtschaftsstudium an der Fernuniversität Hagen. Wahrscheinlich bin ich nächstes Jahr damit fertig.
Am Montag war ich mit meiner Freundin – wir wohnen zusammen – im Tanzkurs. Katja studiert in Basel alte Sprachen, osteuropäische Geschichte und jüdische Studien. Sie kam abends vom Bahnhof und ich mit dem Rad von der Uni. Katja kann gut tanzen. Ich glaube, dass es mehr Spaß macht, wenn man es richtig kann. Aber das kommt schon noch, hoffe ich.
Wir haben einen vergleichbaren kulturellen Hintergrund: Katja stammt ursprünglich aus der Ukraine. Sie kann Sprachen sprechen, von denen die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Akkadisch zum Beispiel und Altsyrisch.
Katja und ich, wir sind beide säkular aufgewachsen. Wir essen auch Fleisch, das nicht aus der »richtigen« Metzgerei kommt. Katja unterrichtet in der Lörracher Gemeinde Hebräisch, sie engagiert sich mehr als ich. Aber wenn ich zu Hause bin und nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumreise, dann gehe ich in unsere Synagoge zum Gebet. Und selbst, wenn ich freitags an einem fremden Ort bin, dann versuche ich, zu einer Gemeinde zu fahren. Ich war schon in relativ vielen Synagogen, auch einmal in San Francisco und in Charlotte, North Carolina. 2005 war ich für drei Monate in Japan. Die nächste Synagoge war in Kobe. Das waren zwei Stunden Bus und Zug und dann noch zwanzig Minuten zu Fuß.
Ich trage es nicht vor mir her, dass ich jüdisch bin. Aber es wissen alle. Als ich Geburtstag hatte, meinen Dreißigsten, im April, da bekam ich einen Büchergutschein für die Buchhandlung Wetzstein. »Wieso gerade Wetzstein?«, frage ich. – »Na ja, da gibt es doch so richtig gute jüdische Literatur«, sagten die Gratulanten.
Bei meinem Opa, der einige Jahre nach uns nach Deutschland kam, hat das Interesse an der Religion, seit er 80 ist, zugenommen. Von null auf, vielleicht nicht hundert, aber doch fünfzig. Das hatte mit seiner Realität bis dahin nichts zu tun. In der Sowjetunion war er Betriebsdirektor, Parteimitglied.
Auch für meinen Vater spielte die Religion in Russland keine dominierende Rolle. Meine Eltern kannten in Moskau einen Rabbiner, da sind sie zu Neujahr und Pessach hingegangen. Ich besuche meine Eltern jede Woche ein Mal. Mein Vater möchte wieder eine Stelle als Wissenschaftler bekommen. Er ist deutlich über fünfzig und hat schon relativ viel versucht, aber es ist schwer für ihn. Er ist freiberuflich für Forschungseinrichtungen tätig und macht Archivrecherchen in Russland. Er kennt sich in der Geschichte der Ostarbeiter aus, Zwangsmigration ist sein Thema. Er kennt die Archive und auch die Leute und weiß, was wo ist.
Wir sind beide viel unterwegs. Diese Woche war ich mit der Organisation einer Dienstreise nach Kreta beschäftigt. Beruflich bin ich oft auf Reisen. Häufig sind die Konferenzen in den USA, aber ich war auch schon mal auf Guam, in Indien, in Taiwan. Einmal sind wir auf Korfu gewesen. Man erzählte, es sei das beste Hotel der Insel, wo wir wohnen würden. Da habe ich einen Kollegen aus Stuttgart angerufen und ihn gefragt, ob wir nicht gemeinsam ein Doppelzimmer nehmen sollen. Auch wenn es die Uni erstattet: Man will ja nicht unsinnig viel dafür ausgeben.
Auch privat reise ich gern, es ist eines meiner Hobbys. Konkrete Pläne für den Sommer habe ich aber noch nicht. Ich lasse es auf mich zukommen. Das ist ein bisschen wie mit der Familienplanung: keine akuten Pläne, aber perspektivische Absichten.
Aufgezeichnet von Thomas Lachenmaier.